Die Macht der Angst (German Edition)
die Provokation in Brunos Augen, seinen verkanteten Kiefer. Mit diesem Ausdruck sah er aus wie Tony. Ein beängstigender Gedanke.
Kev selbst hatte ihm beigebracht, wie man kämpfte. Infolgedessen war Bruno tödlich geschickt, mit den zusätzlichen Vorteilen, dass er zehn Jahre jünger und athletisch wie ein Olympionike war. Zudem erholte er sich nicht gerade von einem schweren Unfall. Kevs Knochen waren noch immer im Heilungsprozess begriffen. Er war weit von hundert Prozent entfernt. Er könnte zwar gewinnen, doch dafür würde er einen Preis bezahlen, den er sich nicht leisten konnte.
Er beschloss klein beizugeben. »Wie du willst. Dann langweile dich eben.« Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Aber geh mir nicht auf den Sack.«
Sein Bruder starrte ihm ins Gesicht, versuchte durch seinen vernarbten Schädel in sein Gehirn zu schauen. Bruno war hartnäckig. Und zutiefst emotional. Zwei Merkmale, die Kev an ihm liebte und respektierte, auch wenn sie ihm gleichzeitig den letzten Nerv raubten. Aber so war das Leben. Voller Kompromisse.
»Tony hat sich nach dir erkundigt.«
Kev, der gerade seine Kaffeetasse an die Lippen hob, hielt inmitten der Bewegung inne. Dann trank er einen Schluck, wenn auch ohne zu atmen, um das Gebräu nicht riechen zu müssen. »Ach ja? Und?«
»Er sorgt sich um dich. Er gehört ebenfalls zu deiner Familie.«
Kev stierte mit leerem Blick auf den Monitor. »Hm.«
Bruno fluchte leise. »Jetzt komm schon, Kev. Tony hat dich nicht absichtlich übervorteilt. Er ist halt so. Er kommt einfach nicht gegen seine Natur an. Abgesehen davon glaubte er, dir einen Gefallen zu tun, indem er dich von der Bildfläche fernhielt.«
»Während er mich jahrelang unbezahlte niedrige Arbeiten für ihn verrichten ließ? Ja, er ist ein echter Gutmensch«, spottete Kev. »Tony tut niemandem einen Gefallen, Bruno. Bei ihm gibt es nichts umsonst. Nicht einmal für dich, und dabei bist du sein eigen Fleisch und Blut.«
Bruno stritt es nicht ab, denn das konnte er nicht. »Er sorgt sich um dich«, wiederholte er. »Das tut er wirklich. Er mag ein gemeiner alter Hurenbock sein, trotzdem tut er es.«
Kevs Schweigen war beredter, als es Worte hätten sein können.
Brunos Mund wurde hart. »Was hätte er denn deiner Meinung nach noch für dich tun müssen?«
»Nichts. Er war nicht verpflichtet, irgendetwas zu tun. Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren. Hätte er mich nicht gerettet, wäre ich gestorben. Hätte er mir keine Bleibe gegeben, wäre ich obdachlos gewesen. Ich wäre noch in jenem ersten Winter auf der Straße erfroren.«
»Warum bist du dann so angepisst?«
Kev schüttelte resigniert den Kopf. »Ich bin nicht angepisst. Natürlich stand ich in seiner Schuld, und das nicht zu knapp. Aber ich denke, ich habe diese Schuld mit dem Schweiß und dem Blut meiner Sklavenarbeit beglichen.«
»So hat er das nie gesehen. Und erzähl keinen Scheiß, von wegen du bist nicht angepisst. Du bist höllisch angepisst.«
Kev hatte nicht die Energie, es von Neuem abzustreiten. Er dachte an die elenden Jahre seiner Knechtschaft zurück. Wie er auf einer Pritsche in dem kleinen, stinkenden Kabuff hinter dem Restaurant gelegen hatte, wo Tony ihn während der arbeitsfreien Stunden parkte. An die Eiseskälte im Winter, die brütende Hitze im Sommer. Eingehüllt vom Gestank verdorbenen Kochgemüses und des Müllcontainers in der Gasse hinter seiner Baracke. Wie er sich mithilfe eines Plastikeimers und eines Lumpens gewaschen hatte, weil sein schäbiges Bad nicht mal über eine Dusche verfügte. Er dachte an die peinigenden Kopfschmerzen, die ihn Nacht für Nacht heimgesucht hatten, und die so schlimm waren, dass er sich ständig übergeben musste. An seine entsetzlichen Albträume.
Er hatte jede Nacht in sein schmuddeliges, flaches Kissen geweint. Er war so verdammt einsam gewesen. Unfähig zu sprechen, aber sich so sehr danach verzehrend, dass er zu implodieren glaubte. Ein schwerer Felsbrocken hatte auf seinem Bewusstsein gelastet und es zerquetscht. Kev wusste, dass er nicht dorthin gehörte, aber er konnte einfach nicht den Finger darauf legen, wohin sonst. Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu Ende zu bringen. Er konnte sich weder konzentrieren noch orientieren. Er war gefangen in einem Fegefeuer der Langeweile und der Angst. Bis Tony ihm einen Spüllappen in die Hand gedrückt und ihn vor einen Stapel fettiger Teller geschoben hatte. Dort war er geblieben. Jahrelang.
Dann war Bruno gekommen, um
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