Die Macht der Angst (German Edition)
er das Gesicht in ihren wirren Locken vergrub, die über das Kissen gebreitet lagen. Er inhalierte ihren himmlischen Duft, prägte sich ihre seidige Textur ein.
»Hm.« Er suchte nach einem neuen Thema, doch stattdessen recycelte er ein altes. »Dann hast du diesen dummen Artikel also gelesen. Das ist echt verrückt. Aber die Welt ist klein.«
»Ich habe ihn verschlungen. Dein Bruder sieht niedlich aus. Er hat tolle Grübchen. Ich giere nach Geschichten über verfügbare Junggesellen.«
Zog sie ihn auf? Kev hob den Kopf und schaute sie an. Ein seltsamer Moment verstrich, in dem sie seinen Blick mied, ihre Lippen jedoch zuckten. »Vielleicht möchte ich doch nicht, dass du ihn kennenlernst«, meinte er.
Ihr Lächeln wurde breiter. Sie pikte ihn mit dem Finger in die Brust. »Jetzt komm schon«, gurrte sie. »Darf ich dich nicht necken? Wollten wir nicht versuchen, fröhlich zu sein?«
»Das ist nicht meine starke Seite«, gestand er.
»Meine auch nicht, aber ich werde mir Mühe geben, wenn du es auch tust. Und vergiss nicht, dass ich nicht die letzten zehn Jahre meines Lebens damit verbracht habe, erotisch aufgeheizte Comic-Romane über deinen kleinen Bruder zu zeichnen.«
Es war das erste Mal, dass sie das mysteriöse Band zwischen ihnen offen eingestand. Kev umschlang sie mit seinem ganzen Körper und versuchte, sich begreiflich zu machen, dass das hier real war und er sich tatsächlich so gut fühlte.
Es machte ihm Angst. Je besser es ihm ging, desto tiefer und zerklüfteter war der Abgrund, in den er stürzen könnte. Egal. Es war so schön, gekannt und gesehen zu werden. Womöglich war er egozentrischer, als er sich je hätte vorstellen können.
»Drachen und Spielzeuge«, sinnierte sie. »Ich kaufe für Ronnie schon seit Jahren Experimentiersets von
Lost Boys
. Das Zeug ist fantastisch. Seelennahrung für kluge Kinder. Auch Erwachsene haben Spaß daran. Trotzdem seltsam. Du kommst mir nicht wie der verspielte Typ vor. Wolltest du schon immer Spiele entwickeln? Ich meine, seit du dich erinnern kannst?«
Kev schüttelte den Kopf. »Nein. Es fing an, weil ich etwas mit meinen Händen machen wollte, um mich zu beschäftigen. Bruno hatte die Idee, Geld damit zu machen. Mir wäre das nie in den Sinn gekommen.«
»Aber du bist so gut darin.«
Er erwiderte nichts, weil er nicht arrogant oder undankbar klingen wollte. In Wahrheit fühlte er zu
Lost Boys
die gleiche kühle Distanz wie zu fast jedem anderen Aspekt seines Lebens. Ablösung, Gleichgültigkeit. Es war nicht die Arbeit, die er eigentlich tun sollte.
Es war ein ehrlicher Job, und Bruno hatte ihn lukrativ gemacht. Da gab es nichts zu mäkeln. Trotzdem betrachtete Kev es als Beschäftigungstherapie, und nicht als echte Arbeit. Er könnte sie im Halbschlaf, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen verrichten. Während er auf dem Klo hockte.
Er verzehrte sich danach, etwas Größeres, Schwierigeres, Komplexeres anzupacken. Etwas Kompliziertes, das seine grauen Zellen auf Touren brachte, sie zur Hochform auflaufen ließ. Etwas, das sein Hirn jahrelang auf Trab halten würde, bevor er des Rätsels Lösung fand.
Was dieses Etwas sein könnte, wusste er nicht, aber er befürchtete, dass es ihm für immer entglitten war, selbst wenn er seine Erinnerungen irgendwann wiederfinden sollte. Er hatte einen großen Teil seines Lebens verloren und gleichzeitig sein berufliches Potenzial. Welch schmale Karriereleiter auch immer er gerade erklommen haben mochte, als sein Leben entzweigebrochen war, er hatte die nächste Sprosse schon vor fast zwei Jahrzehnten verpasst.
Es ließ sich nicht ändern. Das Entwickeln von Spielzeugen half ihm zumindest dabei, seine Hände zu beschäftigen und seine Rechnungen zu bezahlen. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als wüsste er Brunos bemerkenswerte Leistung nicht zu würdigen. Es war Bruno zu verdanken, dass
Lost Boys
inzwischen florierte. Auch das war ein Talent, eines, das er selbst nicht besaß, und er respektierte es. Er würde Bruno mit Entwürfen versorgen, solange sein kleiner Bruder Spaß daran hatte, sie zu verwirklichen und zu vermarkten. Es war leicht verdientes Geld, das das Leben einfacher gestaltete. Dafür war er aufrichtig dankbar.
»Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, bevor … mir zustieß, was mir zugestoßen ist«, erklärte er ruhig. »Jedenfalls habe ich kein Spielzeug entwickelt. Es ist großartig, dass es sich verkauft, aber es ist nicht mein … Ich bin damit
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