Die Macht der Angst (German Edition)
verdutzt an. »Du hast einen Bruder?«
»Einen Ziehbruder. Bruno ist der Großneffe des Mannes, der mich aus der Gewalt der Gangster in dieser Lagerhalle befreit hat. Er kam mit zwölf zu Tony und Rosa, um bei ihnen zu leben. Ein Jahr, nachdem Tony mich gefunden hatte.«
»Also wurdest du von dieser Familie adoptiert?«
»Nein. Niemand hat mich adoptiert, mit Ausnahme von Bruno. Er hat das ganz allein in die Hand genommen, als er dreizehn war.«
Verwirrung spiegelte sich in ihrer Miene. »Wie hat er das angestellt?«
Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf Kevs Gesicht. »Er war bei mir in der Küche des Lokals. Ich hatte mich aus Versehen mit einem Tranchiermesser geschnitten, und Bruno sah das Blut, als ich es aufwischte. Er hat sich das Messer geschnappt und sich in seine eigene Hand geschnitten. Anschließend hat er meine genommen und seine fest darauf gepresst. Das Blut ist uns beiden bis zu den Ellbogen gelaufen. Ich hab mir vor Angst fast in die Hose gemacht.«
Edie schaute ihn mit geweiteten Augen an. »Meine Güte. Und wozu das Ganze?«
»Er wollte dieses Blutsbrüderritual durchziehen, von dem er in irgendeinem dieser historischen Abenteuerromane für Jungen gelesen hatte. Es sollte offiziell sein. Er wollte blutsverwandt mit mir sein. Etwas anderes kam für ihn nicht infrage.«
»Das ist ziemlich dramatisch«, bemerkte sie.
»Allerdings. Bei Bruno dreht sich alles um Dramatik. Er war sehr vereinnahmend. Ist sehr vereinnahmend, besser gesagt. Er musste mit achtzehn Stichen genäht werden. Zum Glück leide ich an keiner durch Blut übertragbaren Krankheit, insofern war es okay. Aber er hätte sich nicht einfach ein wenig ritzen können. Oh nein. Er musste sich bis zu den Sehnen zerfleischen. Ich war noch Wochen später ein nervliches Wrack.«
Kev wob die Finger in Edies, während er an diesen Tag zurückdachte. Es hatte sich gut angefühlt, adoptiert worden zu sein. Er hätte ohne die Ströme von Blut und die vielen Stiche leben können, trotzdem hatte ihn die kühne, verrückte Geste tief berührt. Ja, so war Bruno.
»Also bist du auf diesem Weg zu einem Bruder gekommen?«, folgerte sie. »Das ist doch toll.«
»Ja, das war es. Ich brauchte ihn mehr als er mich. Bruno war es, der mich wieder zum Sprechen gebracht hat.«
»Wie das?«
Kev winkte verlegen ab. »Indem er mir das Ohr abgekaut hat. Der Junge konnte nicht eine Sekunde still sein. Ich musste meine Rezeptoren nachwachsen lassen, nur um ihn zum Schweigen zu bringen, sonst wäre ich noch zum rasenden Berserker mutiert.«
Edie, die seinen Bruno-Tick auf Anhieb durchschaute, belohnte ihn mit einem Lächeln von solcher Strahlkraft, dass es ihm den Atem verschlug. Sie kuschelte sich näher an ihn, und Kev musste seine Erektion gegen seinen Bauch pressen, um sich fester an Edies geschmeidige Haut schmiegen zu können.
Jedes Detail an ihr war das Musterbeispiel perfekter Anmut. Die Knochenstruktur ihres Gesichts, der satte rote Samt ihrer Unterlippe, die feinporige Textur ihrer Haut. All ihre Hügel und Täler und sinnlichen Kurven. Sie war ein lebendiges, atmendes Feuerwerk der Perfektion. Er war geblendet.
Und sie schien exakt seine Miene widerzuspiegeln, als sie ihn betrachtete. Sie berührte sein Gesicht, als wäre es schön und kostbar. Wenn er sonst mit einer Frau intim war, hatte er das Gefühl, dass sie ein Geflecht von Narben sah, mit einem Mann dahinter. Edie tat das nicht. Es war, als bemerkte sie die Narben gar nicht. Nein, das war nicht ganz richtig. Sie bemerkte sie. Seine Narben waren ein Teil von ihm, und darum sah sie sie auch. Aber das war schließlich auch kein Wunder. Immerhin zeichnete sie ihn seit Jahren. Sie war an den Anblick gewöhnt und machte sich nichts daraus.
Diese simple Tatsache haute ihn um. Sie veränderte alles.
»Also, weiter im Text«, sagte sie gerade. »Diese Firma, die du hast. Lass uns darüber reden. Brunos voller Name lautet wie?«
»Bruno Ranieri.«
Ihre elfenhaften Brauen zuckten erstaunt nach oben. »Nicht Larsen?«
»Larsen ist ein erfundener Name. Anfangs haben wir nur Lenkdrachen hergestellt. Wir nannten die Firma
Lost Boys Flywear
. Nach ein paar Jahren haben wir expandiert. Seitdem bieten wir auch Lernspielzeug, Modelle und Experimentierkästen an. Solches Zeug halt.«
»Oh Mann! Ich habe schon von euch gehört!« Mit leuchtenden Augen stützte sie sich auf einen Ellbogen. »Ich habe für meine kleine Schwester Ronnie Spielzeug von
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