Die Macht der Disziplin
bei der Unterdrückung des Verlangens wirksamer sein als der tatsächliche Verzehr. Die Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, aßen beim Ausfüllen des Fragebogens sogar noch weniger als diejenigen, die während des Films nach Belieben zuschlagen durften. Der Effekt schien also nachzuwirken. Am Tag nach dem Experiment erhielten die Teilnehmer eine E-Mail mit der Frage: »Wenn Ihnen jetzt jemand M&Ms anbieten würde, wie viele würden Sie essen?« Die Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, verspürten weniger Verlangen als die Teilnehmer, die verzichtet hatten, oder diejenigen, die nach Herzenslust essen durften.
Wenn Willenskraft erforderlich ist, um einen Nachtisch auszuschlagen, dann fällt es Ihrem Gehirn offenbar leichter, »später« zu sagen als »nie«. Auf lange Sicht wollen Sie weniger und konsumieren weniger. Außerdem ist der Genuss größer, wie ein anderes Experiment ergab. Die Teilnehmer sollten angeben, wie viel es ihnen wert wäre, ihren Lieblingsstar jetzt zu küssen, und wie viel, wenn sie ihn in drei Tagen küssen durften. In der Regel zahlen wir mehr für sofortige Befriedigung, aber in diesem Fall waren die Teilnehmer bereit, fürden aufgeschobenen Genuss mehr zu zahlen, weil sie die Erwartung drei Tage lang genießen konnten. Der aufgeschobene Genuss einer Crème brûlée oder eines Stücks Sachertorte gibt ihnen Gelegenheit, die Vorfreude zu genießen. Wenn Sie die Süßigkeit schließlich essen, verspüren Sie ein geringeres Bedürfnis, sich vollzustopfen, und mäßigen sich eher. Aber wenn Sie dem Nachtisch völlig abgeschworen haben und der Versuchung schließlich nachgeben, dann tritt der Scheißegal-Effekt ein und Sie schaufeln los.
Sagen Sie also niemals nie, wenn’s ums Essen geht. Und starren Sie nicht sehnsüchtig auf die verbotenen Kuchenstücke, wenn der Dessertwagen an Ihrem Tisch vorüberrollt. Sagen Sie sich einfach, dass Sie früher oder später alle probieren werden – nur nicht heute.
AUSBLICK
MIT WENIGER AUFWAND MEHR ERREICHEN
Gib mir Keuschheit
und Enthaltsamkeit –
aber jetzt noch nicht.
Gebet des heiligen Augustinus
in seiner wenig heiligen Jugend 191
G enau wie der heilige Augustinus würde sich jeder von uns gern disziplinieren können – aber bitte später. Aber wann kommt dieser Tag für die weniger heiligen unter uns? Wenn unsere Willenskraft begrenzt ist und die Versuchungen immer weiter zunehmen, wie lässt sich diese Tugend dann wiederbeleben?
Wir wollen wollen auf keinen Fall so tun, als handele es sich um einen Spaziergang, aber wir sind optimistisch, sowohl was unser Privatleben als auch was die Gesellschaft als Ganze angeht. Die Versuchungen werden zwar immer raffinierter, aber das trifft auch auf die Instrumente zu, mit denen wir sie bekämpfen. Wie verstehen immer besser, wie nützlich die Willenskraft ist. Die wissenschaftliche Literatur lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: Sie können den Stress in Ihrem Leben am effektivsten verringern, wenn Sie keine Dummheiten mehr machen. Das heißt, Sie müssen Ihr Leben so einrichten, dass Sie eine realistische Erfolgschance haben. Für erfolgreiche Menschen ist ihre Willenskraft kein letzter Rettungsanker, mit dem sie sich vor dem Untergang bewahren. In der eingangs erwähnten Beeper-Studie stellten Baumeister und seine deutschen Kollegen fest, dass wir umso
weniger
Zeit damit zubringen, Versuchungen zu widerstehen, je mehr Disziplin wir mitbringen.
Anfangs wunderte sich Baumeister. Die Selbstdisziplin ist doch angeblich dazu da, Versuchungen zu widerstehen – warum nutzten disziplinierte Menschen sie dann nicht öfter? Die Erklärung war einfach: Sie mussten seltener auf ihre Willenskraft zurückgreifen, weil sie von vornherein weniger von Versuchungen und inneren Konflikten gepiesackt werden. Sie legen ihr Leben so an, dass sie erst gar nicht in Schwierigkeiten geraten. Diese Schlussfolgerung passte zu den Ergebnissen einer anderen Untersuchung, in der Baumeister mit Kollegen aus den Niederlanden zeigen konnte, dass disziplinierte Menschenihre Selbstdisziplin nicht in Rettungsaktionen und Notfällen verwenden, sondern dazu, in Schule und Beruf effektive Gewohnheiten und Routinen zu entwickeln. 192 Inzwischen demonstrieren zahlreiche Untersuchungen, dass wir umso weniger Stress empfinden, je besser wir unser Leben dank dieser Gewohnheiten im Griff haben. 193 Wir können unsere Disziplin dazu verwenden, Krisen von vornherein zu vermeiden: Wir gestehen uns genug Zeit
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