Die Macht der Disziplin
einmal die Mühe gemacht hatten, die ersten beiden Termin zu notieren: Für sie war der letztmögliche Stichtag der einzige, der wirklich von Belang war.
Die Abschlussarbeiten wurden von Assistenten korrigiert, die nicht wussten, zu welchem Zeitpunkt sie abgegeben worden waren, aber Tice und Baumeister registrierten das Abgabedatum natürlich, um es mit der Leistung der Studenten in Relation setzen zu können. Die Aufschieber, die sich in den Fragebögen als solche bezeichnet hatten oder ihre Arbeiten auf den letzten Drücker abgegeben hatten, schnitten in jeder Hinsicht schlechter ab: Sie bekamen schlechtere Noten auf ihre Abschlussarbeiten
und
auf ihre Zwischen- und Abschlussprüfungen. Aber zogen sie vielleicht anderswo einen Vorteil aus ihrer Bummelei? Eine andere Aufgabe der Studenten bestand darin, während des Semesters ein Gesundheitstagebuch zu führen und festzuhalten, wann sie welche Krankheitssymptome hatten und wann sie zum Arzt gingen. Als Tice die Ergebnisse verglich, machte sie eine erstaunliche Feststellung: Die Faulenzer lebten offenbar gesünder! Sie waren seltener krank und gingen weniger häufig zum Arzt. Es schien einen einfachen Ausgleich zu geben: Die Streber gaben ihre Arbeit rechtzeitig ab und bekamen bessere Noten, aber die Aufschieber waren gesünder. Der Fleiß hatte offenbar seinen Preis, vielleicht weil er dem Immunsystem Glukose abzwackte. Aber als Baumeister und Tice über den Ergebnissenrätselten, fiel ihnen auf, dass die Studenten ihre Gesundheitstagebücher schon eine Woche vor Ende des Semesters abgegeben hatten, also kurz bevor die Aufschieber sich an den Schreibtisch setzten. Sie waren zwar gesünder, solange sie faulenzten, aber was passierte am Semesterende, als die Abgabetermine näher rückten?
Also wurde das Experiment im nächsten Semester mit einem anderen Kurs wiederholt, und diesmal mussten die Teilnehmer ihr Gesundheitstagebuch bis zum Tag der Abschlussprüfung führen. Wieder erzielten die Aufschieber schlechtere Leistungen und erfreuten sich zu Beginn des Semesters einer besseren Gesundheit. Während die Streber an ihren Aufsätzen arbeiteten und Triefnasen hatten, spielten die Aufschieber im Park Frisbee, entspannten sich auf Partys und schliefen aus. Solange der Abgabetermin in weiter Ferne liegt, genießen die Aufschieber das Leben. Aber irgendwann bekommen sie die Quittung. Gegen Ende des Semesters litten sie deutlich mehr unter Stress als ihre Kommilitonen. Jetzt mussten sie sich zusammenreißen, um alle überfälligen Aufgaben zu erledigen – und in diesem Moment nahmen die Krankheiten rasant zu. Nun waren die Aufschieber häufiger krank als die anderen Studenten, und zwar so deutlich, dass der Vorteil vom Beginn des Semesters mehr als aufgewogen wurde. Die Nachtschichten forderten ihren Tribut.
Die schlimmsten Faulenzer schafften es nicht einmal, ihren Aufsatz zum letzten Abgabetermin einzureichen. Sie machten von einer Option Gebrauch, die viele Universitäten anbieten, und verschoben die Abgabe ins kommende Semester. Die Case Western University offerierte diese Möglichkeit, sie erkannte die Leistung jedoch nur an, wenn die verspäteten Arbeiten bis 17 Uhr an einem Freitag gegen Ende des folgenden Semesters in der Verwaltung abgegeben wurden. Dieser Freitag stellte die letztmögliche Deadline dar und war nicht weiter verhandelbar. Unter den Studenten, die diese Option nutzten, war natürlich auch die Studentin, die im Aufschiebefragebogen zu Beginn des Semesters am schlechtesten abgeschnitten hatte. Laut den Regeln der Universität war sie dafür verantwortlich, sich mit ihrer Professorinin Verbindung zu setzen und einen Fahrplan für die Abgabe ihrer Arbeit zu vereinbaren. Die Wochen verstrichen, aber die Studentin meldete sich nicht. Schließlich, am Nachmittag des entscheidenden Freitags, kaum zwei Stunden vor dem Abgabetermin, rief sie an.
»Hallo Dr. Tice«, sagte sie mit fröhlicher Stimme. »Könnten Sie mich noch mal erinnern, wann der Aufsatz für den Kurs im letzten Semester fällig ist?«
Wie nicht anders zu erwarten, schaffte sie es nicht mehr rechtzeitig, ihren Aufsatz abzugeben. Irgendwann kommt der Punkt, an dem Ihnen auch die stärkste Willenskraft nicht mehr hilft. Aber die meisten Menschen, selbst chronische Faulenzer, können diesem Schicksal entgehen, indem sie lernen, nicht erst so lange zu warten, sondern die Initiative zu ergreifen. Wir haben uns in diesem Buch Hunderte Experimente und Strategien zur Selbstdisziplin angesehen.
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