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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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Tisch mit vielen verlockenden Süßigkeiten, und da niemand die Kinder begleitete, hätten sie unbemerkt gegen die Anweisungen verstoßen können – was viele auch taten, wenn der Spiegel im Raum mit dem Gesicht zur Wand hing. Wenn sich die Kinder jedoch im Spiegel sehen konnten, widerstanden sie der Versuchung eher. Obwohl sie sich selbst in ihrer Halloween-Verkleidung sahen, fühlten sie sich offenbar von ihrem Spiegelbild ermahnt, sich an die Spielregeln zu halten. 84
    Diese Verbindung zwischen Ich-Bewusstsein und Selbstdisziplin ließ sich auch beim Alkoholkonsum von Erwachsenen nachweisen.Alkohol mindert bekanntermaßen die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung; 85 mit dem schwindenden Ich-Bewusstsein verlieren Trinker die Selbstdisziplin, geraten in Streit, rauchen mehr, lassen sich gehen und wachen am nächsten Morgen mit einem schlechten Gewissen auf. Das Schlimmste am Kater ist die Rückkehr der Selbstwahrnehmung, denn dann nehmen wir eine unserer entscheidenden sozialen Pflichten wieder auf: Wir vergleichen unser Verhalten mit unseren Maßstäben und denen unserer Mitmenschen.
    Selbstbeobachtung bedeutet nicht nur zu erkennen, wie die Dinge stehen, sondern auch, einen Abgleich damit vorzunehmen, wie sie stehen sollten. Unsere Vorfahren lebten in Gruppen, die ihre Mitglieder dafür belohnten, dass sie sich an Werte, Normen und Ideale hielten. Wer seine Handlungen an diese Maßstäbe anpassen konnte, dem ging es besser als anderen, die nicht bemerkten, wenn sie in Fettnäpfchen traten. Das Verhalten an den Standards auszurichten, erfordert Willenskraft, doch ohne Ich-Bewusstsein ist Willenskraft nutzlos. Deshalb entwickelten unsere Vorfahren in der Savanne das Ich-Bewusstsein und deshalb besteht es auch im heutigen, oft trügerischen sozialen Umfeld fort.
    Das vermessene Ich
    Der englische Romanautor Anthony Trollope 86 hielt es weder für nötig noch für ratsam, mehr als drei Stunden am Tag zu schreiben. Er wurde einer der bekanntesten Vielschreiber des 19. Jahrhunderts, obwohl er gleichzeitig Postinspektor war. Er stand jeden Morgen um halb sechs auf, stärkte sich mit Kaffee und las eine halbe Stunde lang, was er am Vortag geschrieben hatte, um in Stimmung zu kommen. Dann schrieb er zweieinhalb Stunden lang und stoppte die Zeit mit einer Uhr, die er vor sich auf den Schreibtisch stellte. Er zwang sich, 250 Wörter pro Viertelstunde zu schreiben. Um sein Pensum einzuhalten, zählte er sie. »Ich habe festgestellt, dass ich mit der Regelmäßigkeit einer Uhr250 Wörter schreiben kann«, berichtete er. Bei diesem Rhythmus kam er vor dem Frühstück auf 2.500 Wörter. Das gelang ihm nicht jeden Tag – gelegentlich musste er schließlich noch auf Fuchsjagd gehen –, aber er stellte sicher, dass er jede Woche ein bestimmtes Ziel erreichte. Für jeden seiner Romane stellte er einen Arbeitsplan auf; er kalkulierte pro Woche etwa 10.000 Wörter ein und führte genauestens Buch.
    »In diesem Buch notiere ich jeden Tag, wie viele Seiten ich geschrieben habe. Wenn ich einen oder zwei Tage lang bummele, dann ist das genau festgehalten: Meine Trödelei starrt mir ins Gesicht und spornt mich an, mehr zu arbeiten, um den Rückstand wieder aufzuholen«, erklärte er. »Eine Woche, in der ich nicht genug geschrieben habe, ist mir ein Dorn im Auge. Ein ganzer Monat wäre mir ein Stich ins Herz.«
    Ein Dorn im Auge und ein Stich ins Herz – ein Psychologe könnte keine besseren Bilder für die Auswirkungen der Selbstüberwachung finden. Als Beobachter seiner Gesellschaft war Trollope seiner Zeit voraus. Doch die Darstellung seiner Arbeitsweise, die er in seiner posthum veröffentlichten Autobiografie beschrieb, kostete ihn seinen Ruf als ernstzunehmender Schriftsteller. Kritiker und Autoren – vor allem Autoren, die ihre Abgabetermine nicht einhielten – waren entsetzt. Wie konnte ein Künstler seine Arbeit mit der Uhr stoppen? Genie ließ sich doch nicht planen! Aber Trollope hatte in seiner Autobiografie bereits eine Antwort an seine Kritiker parat.
    »Man sagt mir, diese Arbeitsweise sei eines Genies nicht würdig«, schrieb er. »Ich habe mich nie für ein Genie gehalten, aber selbst wenn, dann hätte ich mich dieser Disziplin unterworfen. Nichts ist so mächtig wie ein Gesetz, das man nicht brechen darf. Es hat die Kraft des steten Tropfens, der den Stein aushöhlt. Eine kleine Aufgabe, die täglich ausgeführt wird, bewirkt mehr als die einmaligen Heldentaten des Herkules.« Trollope war eine Ausnahmeerscheinung –

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