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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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vermeintlichen Makel an sich entdecken. Sie werfen einen Blick in den Spiegel und stellen sich eine Frage, mit der sich Psychologen schon seit Jahrzehnten beschäftigen: Warum? Warum werden wir unserer selbst bewusst, wenn es uns nur unzufrieden macht?
    Ich sehe mich, also …
    In den siebziger Jahren begannen Sozialpsychologen allmählich zu verstehen, wie sich das Ich-Bewusstsein 82 beim Menschen entwickelte. Robert Wicklund und Shelley Duval, die auf diesem Gebiet Pionierarbeit leisteten, wurden anfangs von ihren Kollegen belächelt, die ihre Untersuchungen für unwissenschaftlich hielten. Aber irgendwann ließen sich die Ergebnisse nicht mehr ignorieren. Wenn Menschen vor einen Spiegel gestellt werden oder wenn man ihnen sagt, dass ihrVerhalten gefilmt wird, verändern sie ihr Verhalten. Diese bewussteren Menschen zeigen bessere Leistungen bei Laborexperimenten, sie füllen Fragebögen ehrlicher aus, ihre Handlungen sind in sich stimmiger und stehen eher mit ihren Werten in Einklang.
    Ein Muster ist besonders auffällig. Wenn wir einen Tisch sehen, dann denken wir vermutlich nur: »Das ist ein Tisch.« Aber wenn wir uns selbst sehen, reagieren wir nicht so neutral. Wann immer wir unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst richten, vergleichen wir uns offenbar mit einem Wunschbild, das wir von uns selbst haben. Wenn wir uns selbst im Spiegel sehen, denken wir nicht nur: »Das bin ich.« Stattdessen denken wir eher: »Meine Haare sind ja völlig zerzaust« oder: »Das Hemd steht mir gut« oder: »Habe ich zugenommen?«. Unser Ich-Bewusstsein scheint immer mit einem Vergleich zwischen uns und unserem Ideal einherzugehen.
    Die beiden Psychologen verwendeten dafür einen Begriff: Standard. Das Ich-Bewusstsein scheint mit einem Abgleich mit Standards zusammenzuhängen. Zunächst gingen sie davon aus, dass es sich bei diesen Standards um Perfektionsideale handelte. Das würde allerdings bedeuten, dass das Ich-Bewusstsein fast immer unangenehm ist, denn wir sind schließlich nie vollkommen. Das klang plausibel, vor allem wenn man versuchte, die Scham der pubertierenden Jugendlichen zu verstehen, aber aus evolutionärer Sicht schien es rätselhaft. Warum sollten unsere Vorfahren gelernt haben, sich mit unerreichbaren Maßstäben zu messen? Welchen evolutionären Vorteil sollte es haben, wenn man sich dauernd schlecht fühlt? Die Vorstellung, dass das Ich-Bewusstsein etwas Unangenehmes sein soll, passt auch nicht zu der Freude, die viele Menschen vor und nach der Pubertät empfinden, wenn sie über sich selbst nachdenken oder in den Spiegel sehen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass viele Menschen sich gut fühlen, wenn sie sich mit dem vermeintlichen »Durchschnitt« vergleichen, der natürlich immer schlechter ist als wir selbst. Genauso können wir uns freuen, wenn wir unser gegenwärtiges mit unserem früheren Ich vergleichen, weil wir in der Regel davon ausgehen, dass wir mit zunehmendemAlter immer besser werden (auch wenn unsere Körper vielleicht nicht mehr ganz so frisch sind).
    Aber auch wenn wir die Messlatte meist niedrig legen, um uns gut zu fühlen, ist das noch keine Erklärung dafür, warum die Menschen ein Ich-Bewusstsein entwickelten. Der Natur ist es egal, ob wir uns gut fühlen oder nicht, sie interessiert sich nur für Eigenschaften, die zu unserer Fortpflanzung beitragen. Was nutzt uns da das Ich-Bewusstsein? Auf der Suche nach einer Antwort stießen die Psychologen Charles Carver und Michael Scheier 83 auf eine entscheidende Erkenntnis: Das Ich-Bewusstsein entwickelte sich, da es der Selbstregulation dient. Sie hatten Versuchspersonen beobachtet, die vor einem Spiegel an einem Schreibtisch saßen. Der Spiegel schien lediglich der Dekoration zu dienen, doch er hatte erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten der Teilnehmer. Wenn sie sich in dem Spiegel sehen konnten, hielten sie sich eher an ihre Werte als an die Anweisungen anderer. Wenn sie die Anweisung erhielten, einem anderen vermeintliche Elektroschocks zu geben, dann reagierten sie zurückhaltender als eine Vergleichsgruppe ohne Spiegel. Der Spiegel veranlasste sie, eine Aufgabe gewissenhafter auszuführen. Wenn jemand sie drängte, in einem Punkt ihre Meinung zu ändern, hielten sie eher dagegen.
    Eines Abends an Halloween klopften die Kinder auch an die Tür eines der Psychologen. Der fragte sie nach ihren Namen, schickte sie in ein Zimmer und sagte ihnen, sie dürften sich dort eine und nur eine Süßigkeit mitnehmen. In besagtem Zimmer stand ein

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