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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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Gefühl, das irgendetwas nicht in Ordnung war«, erinnert sich Blaine. »Ich habe Organversagen durchgemacht, aber es gibt nichts Schlimmeres als geistige Verwirrung. Durch das Eis habe ich einen Typen gesehen, der vor mir gestanden hat, und ich habe ihn gefragt, wie spät es ist. Er hat gesagt: ›2 Uhr‹. Ich habe mir gedacht, ›Mann, ich muss das noch bis 10 Uhr durchhalten. Das sind noch acht Stunden!‹ Ich habe mir gesagt, wenn es nur noch sechs Stunden sind, dann ist das nicht mehr ganz so schlimm, also muss ich nur die nächsten zwei Stunden überstehen. Ich habe diese Technikauch bei anderen Stunts als Durchhaltetechnik benutzt. Also habe ich zwei Stunden gewartet. Ich habe einfach nur geduldig gewartet, aber es war verdammt schwer. Ich habe Stimmen gehört. Ich habe ins Eis gemeißelte Körper gesehen. Und ich habe natürlich nicht gewusst, dass ich wegen des Schlafmangels Halluzinationen hatte. In solchen Situationen weißt du einfach nicht mehr, was los ist – du meinst, das ist alles real, weil du wach bist. Also habe ich zwei Stunden gewartet. Dann habe ich durch das Eis einen Typen gesehen und ihn gefragt: ›Wie spät ist es?‹«
    Blaine besaß noch genug mentale Ressourcen, um zu erkennen, dass der Mann vor ihm gewisse Ähnlichkeiten mit dem Mann aufwies, den er um 2 Uhr gefragt hatte. Dann stellte er fest, dass es derselbe Mann war.
    »Er hat gesagt: ›Es ist fünf nach zwei‹«, erinnert sich Blaine. »Danach ist es mir richtig schlecht gegangen.«
    Irgendwie gelang es ihm, bis zur geplanten Sendezeit durchzuhalten. Doch als er aus dem Eis geschnitten wurde, war er derart benommen und schwach, dass er sofort in einem Krankenwagen abtransportiert wurde. »Am Ende habe ich gedacht, das ist das Fegefeuer. Ich habe ehrlich geglaubt, dass ich verurteilt werde und dass ich da zu warten habe, bis man mir sagt, ob ich in den Himmel oder in die Hölle komme. Diese letzten acht Stunden waren das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Dass ich da nicht ausgestiegen bin, dazu war etwas nötig, das stärker war als ich.«
    Das klang wirklich so, als könne es kaum schlimmer werden. Doch als wir Blaine von den Experimenten berichteten, die Baumeister und andere Psychologen durchführten, fiel Blaine noch etwas ein. Als er hörte, welchen zusätzlichen Nutzen das Training der Willenskraft brachte, nickte er: »Das leuchtet mir ein. Man stärkt die Disziplin. Jetzt, wo Sie es sagen – wenn ich mich auf einen Stunt vorbereite und ein Ziel habe, ändere ich alles. Ich beherrsche mich in jedem Bereich. Ich lese viel. Ich ernähre mich gesund. Ich betätige mich sozial – ich besuche Kinder im Krankenhaus und so. Ich habeeine ganz andere Energie. Völlige Selbstbeherrschung. Ich esse nach einem Ernährungsplan. Ich mäßige mich. Ich trinke keinen Alkohol. Ich verschwende keine Zeit. Aber wenn es vorbei ist, gehe ich zum anderen Extrem über, ich verliere jede Beherrschung, und das ist wie ein Dominoeffekt. Wenn ich mich nicht mehr gesund ernähre, dann lese ich weniger. Ich bin nicht mehr so konzentriert. Ich nutze meine Zeit nicht mehr so gut. Ich vergeude viel Zeit. Ich trinke Alkohol. Ich mache Dummheiten. Nach einem Stunt kann es passieren, dass ich in drei Monaten 20 Kilo zunehme.«
    Während unseres Gesprächs in seiner Wohnung in Greenwich Village befindet sich Blaine in einer Nach-Stunt-Phase. Er war kurz zuvor ein paar Tage lang ungeschützt unter Haien geschwommen und dachte darüber nach, sich als Nächstes in einer Glasflasche über den Atlantik treiben zu lassen. Doch das Projekt war noch nicht fest geplant, also hatte er sich entspannt und einige Pfunde zugelegt.
    »Sie erwischen mich in einem Moment, in dem ich alles andere als diszipliniert bin«, gesteht er. »Ich esse fünf Tage lang gesund und zehn Tage lang wie ein Irrer. Aber wenn es wieder so weit ist und ich mich auf eine Aktion vorbereite, dann nehme ich pro Woche anderthalb Kilo ab. In fünf Monaten bin ich fit und meine Disziplin ist groß. Schon komisch. Bei der Arbeit bin ich diszipliniert, aber im Leben nicht immer.«
    Blaine konnte mit Haien schwimmen, siebzehn Minuten lang die Luft anhalten oder 63 Stunden in der eisigen Vorhölle stehen. Aber alltägliche Dinge empfand er noch immer als frustrierend. Mit seiner Eisfolter stellte er einen neuen Ausdauerweltrekord auf, aber der wurde nie ins Guinness-Buch aufgenommen, weil er die Formulare nicht rechtzeitig ausgefüllt hatte. Nicht, dass er die Formulare nicht gehabt hätte – er

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