Die Macht der Disziplin
begann Jeal, das beliebte Bild des Gegensatzpaars Livingstone-Stanley zu hinterfragen. In den vergangenen Jahren tauchten Tausende Briefe und Aufzeichnungen Stanleys auf, und Jeal benutzte diese, um die Biografie des Entdeckers neu zu schreiben. Das Ergebnis ist sein Buch
Stanley
. Diese begeistert gefeierte Biografie zeichnet den Entdecker als zutiefst problematischen Menschen, der uns durch seine Mischung aus Ehrgeiz und Unsicherheit, Tugend und Lüge umso mutiger und menschlicher erscheint. Seine Selbstbeherrschung in der Wildnis wird umso bemerkenswerter, wenn man die Geheimnisse kennt, die er in seinem Herzen barg.
Die Empathielücke
Wenn die Selbstdisziplin teilweise erblich ist – und davon kann man ausgehen –, dann hatte Stanley eigentlich schlechte Karten. Er kam in Wales als Kind einer unverheirateten achtzehnjährigen Frau zur Welt, die nach ihm vier weitere uneheliche Kinder von mindestens zwei Männern hatte. Seinen Vater lernte er nie kennen. Seine Mutter lieferte ihn kurz nach seiner Geburt bei ihrem Vater ab, der sich um den Kleinen kümmerte. Der Großvater starb, als der Junge sechs Jahre alt war, und eine andere Familie nahm ihn bei sich auf. Doch schon bald unternahmen seine neuen Pflegeeltern einen Ausflug mit ihm. Sie sagten ihm, sie wollten ihn seiner neuen Tante vorstellen, doch stattdessen endete der verwirrte Junge in einem großen Haus mit dicken Mauern. Es war das Arbeitshaus. Noch als Erwachsener sollte sich Stanley an den Moment erinnern, in dem die verräterischen Pflegeeltern flüchteten, die Tür hinter ihnen zuschlug, und er zum ersten Mal »dieses furchtbare Gefühl der völligen Einsamkeit« erlebte.
Der Junge, der damals noch John Rowlands hieß, sollte später alles tun, um die Schande des Arbeitshauses und das Stigma der unehelichen Geburt zu verbergen. Nachdem er im Alter von 15 Jahren das Arbeitshaus verlassen hatte und nach New Orleans ausgewandert war, leugnete er seine walisische Herkunft, gab sich als Amerikaner aus und legte sich sogar einen amerikanischen Zungenschlag zu. Er nannte sich Henry Morton Stanley und behauptete, er habe den Namen seines Stiefvaters angenommen, eines freundlichen und fleißigen Baumwollhändlers aus New Orleans. Seine Adoptiveltern hätten ihn zur Selbstbeherrschung erzogen, log er, und die letzten Worte seiner Fantasiemutter lauteten angeblich: »Sei ein guter Junge.«
»Eines seiner Lieblingsthemen war die Redlichkeit«, behauptete Stanley von seinem erfundenen Stiefvater. 107 »Er erklärte, deren Übung verleiht dem Willen Kraft, die er genauso benötige wie ein Muskel. Der Wille muss gestärkt werden, um weltlichen Begierden und niederen Gelüsten zu widerstehen, und ist einer der besten Verbündeten,den das Gewissen haben kann.« Es ist nicht verwunderlich, dass der Rat des fiktiven Vaters genau zu den Regeln passte, die sich Stanley selbst auferlegte, um nicht in die Laster seiner eigenen Eltern zu verfallen. Während er im Alter von elf Jahren im Arbeitshaus lebte, experimentierte er bereits mit dem Willen, indem er sich zusätzliche Herausforderungen auferlegte:
Ich stand um Mitternacht auf, um im Geheimen mit meinem bösen Ich zu ringen. Während meine Gefährten ruhig schliefen, kniete ich mich auf den Boden und öffnete mein Herz vor dem, der alles sieht und alles weiß … Ich gelobte, nicht nach mehr Essen zu verlangen, und um ihm zu beweisen, dass ich den Magen und seine Schmerzen verachtete, verteilte ich eine der drei Mahlzeiten unter den anderen Kindern. Die Hälfte meines Puddings gab ich Ffoulkes, welcher der Gier verfallen war. Und wenn ich je etwas besaß, das den Neid eines anderen erregte, dann gab ich es sofort her. 108
Tugend erforderte Geduld, wie er bald feststellen musste. »Manchmal schien es ganz und gar vergebens, gegen das Böse ankämpfen zu wollen, doch mit jedem Schritt stellten sich winzige Verbesserungen ein und der Charakter entwickelte sich immer weiter.« Im Alter von 26 Jahren war er ein erfolgreicher Kriegsberichterstatter und predigte seinen Freunden die Selbstbeherrschung. Als einer vorschlug, er solle Urlaub machen, lehnte er großsprecherisch ab und behauptete, er könne nicht ohne das Rattern der Eisenbahn leben. Er würde den Urlaub nicht genießen können, da ihn sein Gewissen plage, wenn er seine Zeit verschwende. Nichts konnte ihn davon abbringen, seine Ziele zu verfolgen: »Damit meine ich meine Hingabe, meine Selbstverleugnung und meine unermüdliche Energie, um mein eigener
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