Die Macht der Disziplin
suchte er monatelang einen Weg durch den undurchdringlichen Ituri-Regenwald. Während sie sich durch Wolkenbrüche und hüfttiefen Schlamm kämpften, mussten sie sich riesigen Schwärmen von Stechmücken und Horden von Ameisen erwehren. Dabei wurden sie von dauerndem Hunger ausgemergelt, von nässenden Wunden und blutenden Blasen gequält und von Malaria und Durchfall heimgesucht. Sie wurden von Einheimischen mit Giftpfeilen und Speeren verwundet, getötet und manchmal auch gegessen. Während der schrecklichsten Phase starben jeden Tag mehrere Angehörige der Gruppe an Krankheit und Hunger. Von denen, die Stanley ins »finsterste Afrika« folgten, wie er diesen Urwald nannte, auf dessen Boden kaum Licht fiel, kam nicht einmal jeder Dritte wieder zurück.
Nur wenige Entdecker der Geschichte haben vergleichbares Elend und Schrecken erlebt. Eine der wenigen Expeditionen, die ähnlichmörderisch verlief, war diejenige, die Stanley selbst Jahre zuvor quer durch den Kontinent und zu den Quellen des Kongos und des Nils geführt hatte. Doch Stanley hatte Jahr für Jahr und Expedition für Expedition sämtliche Schrecknisse durchgestanden. Seine europäischen Begleiter bewunderten seine Willenskraft. Afrikaner nannten ihn Bula Matari, den Steinbrecher. Die einheimischen Führer und Träger, die seine Expeditionen überlebten, schlossen sich ihm wieder und wieder an, denn sie bewunderten nicht nur seine Ausdauer und Entschlossenheit, sondern auch seine Güte und seinen Gleichmut unter höllischen Bedingungen. Während andere der Wildnis die Schuld gaben, wenn sich vermeintlich zivilisierte Männer in Wilde verwandelten, behauptete Stanley, sie diszipliniere ihn: »Ich behaupte nicht, ein feiner Mensch zu sein. Aber nachdem ich mein Leben als ungebildeter und ungeduldiger Mann begann, haben mich genau jene Erfahrungen in Afrika geschult, von denen es heute heißt, sie zersetzten den Charakter der Europäer.«
Was lernte er? Warum ertappte ihn die Wildnis nicht auch bei einer Schwäche? Die Künstler und Intellektuellen seiner Zeit waren von Stanleys Taten fasziniert. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain 105 mutmaßte, Stanley sei einer der wenigen seiner Zeitgenossen, an die man sich in hundert Jahren noch erinnern werde. »Wenn ich das, was ich in meinem kurzen Leben geleistet habe, mit dem vergleiche, was Stanley in seinem vermutlich kürzeren Leben geleistet hat, dann fegt dieser Vergleich mein turmhohes Selbstbewusstsein hinweg und lässt nichts als den Keller übrig.« Der russische Dramatiker Anton Tschechow 106 erklärte, Stanley sei mehr wert als Dutzende Schulen und Hunderte guter Bücher. Er sah Stanleys »hartnäckiges und unbezwingbares Streben nach einem Ziel und seine Gleichgültigkeit gegenüber Entbehrungen, Gefahren und Versuchungen« als Zeichen »größter moralischer Stärke«.
Aber das britische Establishment begegnete dem Journalisten aus Amerika mit Misstrauen, und nach dem Skandal um seine Nachhut waren sofort eifersüchtige Gegenspieler zur Stelle, die seine Forschungsexpeditionenkritisierten. Im folgenden Jahrhundert geriet er immer mehr in Verruf, und Biografen und Historiker kritisierten seine Expeditionen und seine Verbindungen zu Leopold II., dem unersättlichen belgischen König, dessen Elfenbeinhändler Joseph Conrad später als Vorlage für
Herz der Finsternis
dienen sollten. Als sich das Zeitalter des Kolonialismus dem Ende zuneigte und die viktorianische Charakterbildung aus der Mode kam, galt Stanley weniger als Vorbild der Selbstbeherrschung, sondern eher als eiserner Egomane, brutaler Ausbeuter und rücksichtsloser Imperialist, der sich seinen Weg durch Afrika gehauen und geschossen habe. Dieser grausame Eroberer wurde oft als Gegenteil des sanftmütigen Dr. Livingstone gezeichnet, diesen einsamen Reisenden, der den Kontinent durchstreifte, um Seelen zu retten.
Doch in den letzten Jahren wandelte sich sein Bild ein weiteres Mal. Heute sehen wir einen Stanley, der für ein modernes Publikum sehr viel spannender ist als der furchtlose Held oder der rücksichtslose Imperialist. Dieser Entdecker überlebte die Wildnis nicht aufgrund seiner Selbstsucht oder seines ehernen Willens, sondern weil er wusste, dass der Wille Grenzen hat, und der deshalb langfristige Strategien entwickelte, die Psychologen erst allmählich zu verstehen beginnen.
Diesen neuen Stanley entdeckte ausgerechnet der Livingstone-Biograf Tim Jeal, ein britischer Romanautor. Bei seinen Recherchen zu David Livingstone
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