Die Macht der Disziplin
Herr zu werden.«
Doch in Afrika erkannte Stanley die Grenzen des Willens. Auch wenn er behauptete, seine Erfahrungen auf dem Kontinent hätten seinen Willen gestärkt, sah er auch, welchen Tribut Afrika von Menschenforderte, die nicht an diese Strapazen und Versuchungen gewöhnt waren. »Wer diese Erfahrungen nicht selbst gemacht hat, kann kaum beurteilen, welche Selbstbeherrschung jeder von uns in dieser Umgebung aufzubringen hatte«, schrieb er über seine Expedition im Ituri-Regenwald. Als Stanley von den Grausamkeiten und Entgleisungen seiner Nachhut erfuhr, notierte er in seinem Tagebuch, die meisten Menschen würden daraus vermutlich den falschen Schluss ziehen, der Mensch sei von Natur aus böse. Die Menschen zu Hause in der Zivilisation könnten kaum nachvollziehen, welche Veränderungen in den Männern seit ihrem Aufbruch in England vorgegangen waren:
Zu Hause hatten diese Männer keinerlei Anlass, ihre natürliche Wildheit zu zeigen … Plötzlich wurden sie nach Afrika und in dessen Elend versetzt. Sie mussten ohne Braten, Brot, Wein, Bücher, Zeitungen, Gesellschaft und Freunde auskommen. Das Fieber packte sie und zerstörte ihren Geist und ihren Körper. Die Angst verdrängte ihre Menschlichkeit, die Anstrengung ihre Güte und die Sorge ihre Freude … bis sie moralisch und körperlich nur noch ein Schatten derjenigen Männer waren, die sie in der englischen Gesellschaft gewesen waren. 109
Was Stanley hier beschreibt, ist ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler George Loewenstein später als »Empathielücke zwischen heiß und kalt« 110 bezeichnen sollte: die Unfähigkeit, in einem kühlen, rationalen Moment zu erkennen, wie wir uns in einem Moment der Hitze, Leidenschaft und Versuchung verhalten werden. Zu Hause in England nahmen sich diese Männer mit kühlem Kopf vor, sich tugendhaft zu verhalten, doch sie konnten sich nicht vorstellen, wie anders sie in der Hitze des Dschungels empfinden würden. Die Empathielücke stellt bis heute eine der größten Herausforderungen an die Selbstdisziplin dar, wenn auch in nicht ganz so extremer Form. Die meisten Menschen kennen sie eher aus Erlebnissen wie dem Folgenden, das eine unserer Bekannten hatte. Die Frau wuchs als einziges Kind in einer Kommune von idealistischen Hippies auf, die unteranderem das Ideal vertraten, sich nur von gesunden und natürlichen Lebensmitteln zu ernähren. Ihre Mutter meinte jedoch, das Mädchen dürfe ruhig gelegentlich ein paar Süßigkeiten aus dem Supermarkt essen. Dafür musste sie eine Menge Spott über sich ergehen lassen und sich Vorträge über die Gefahren des Zuckers, die Schrecken des Junkfood und die Verschwörung der unmoralischen Lebensmittelkonzerne anhören. Die Mutter kaufte die Süßigkeiten trotzdem, aber bald stand sie vor einem unerwarteten Problem: Sie verschwanden auf unerklärliche Weise. Spät abends, nachdem die Kommunarden große Mengen von Naturprodukten wie Wein und Cannabis zu sich genommen hatten, schmolz die Willenskraft und damit die Verachtung für Junkfood dahin und der Appetit nach Zucker wuchs. Viele Eltern müssen Süßigkeiten vor ihren Kindern verstecken, doch diese Mutter stellte bald fest, dass ihr Kind der einzige Mensch war, dem sie das Versteck verraten durfte. Sie musste die Süßigkeiten verstecken, weil die Erwachsenen unter der Empathielücke litten. Am Tag verteufelten sie alles Junkfood, weil sie nicht wussten, wie sehr sie sich nach dem bösen Zuckerkram sehnen würden, wenn sie breit und müde waren.
Wenn Sie Regeln für Ihr künftiges Verhalten aufstellen, tun Sie das oft mit einem kühlen Kopf und gehen unrealistische Verpflichtungen ein. »Es ist leicht, mit vollem Bauch einen Diätplan aufzustellen«, meint Loewenstein, der an der Carnegie Mellon University unterrichtet. Genauso leicht ist es, keusch zu sein, solange man nicht sexuell erregt ist, wie Loewenstein und Dan Ariely feststellten, als sie heterosexuellen jungen Männern einige intime Fragen stellten. Sie sollten sich vorstellen, eine junge Frau, zu der sie sich hingezogen fühlten, schlage ihnen einen Dreier mit einem anderen Mann vor – würden sie sich darauf einlassen? Konnten sie sich vorstellen, mit einer vierzig Jahre älteren Frau zu schlafen? Oder mit einem zwölfjährigen Mädchen? Würden sie einer Frau vorspielen, sie seien in sie verliebt, um sie ins Bett zu bekommen? Würden sie ein Nein überhören? Würden sie eine Frau betrunken machen oder ihr Drogen einflößen, um ihr die
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