Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
Schuld fertig zu werden. Das ist die segensreiche Wirkung der Beichte. Sigmund Freud entdeckte ihre weltliche Variante: Menschen können sich von Neurosen befreien, die oft durch übertriebene Schuldgefühle ausgelöst werden, wenn sie verdrängte Ereignisse ihrer Biographie offenlegen. Die Lust an Kriminalgeschichten ist dem Gefühl der Befriedigung zu verdanken, das den Leser erfüllt, wenn er an der Aufklärung eines Verbrechens teilnehmen darf. Der demokratische Rechtsstaat garantiert uns, dass wir klagen oder dass Journalisten die Lügen der Lügner öffentlich machen können. Er ist aber darauf angewiesen, dass Menschen aktiv werden, wenn sie durch Lügen verursachtes Unrecht entdecken. Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter.
Die Sehnsucht nach Aufklärung erfüllt schon Kinder. Viele Märchen befriedigen diese Sehnsucht, weil immer eine Figur vorkommt, die die Wahrheit kennt, oder Umstände eintreten, die durch Aufklärung Gerechtigkeit möglich machen. Aschenputtel, Schneewittchen und andere wurden erlöst, nachdem die Wahrheit über ihre Herkunft und ihre Bestimmung ans Licht kam. Jugendliche erwarten von Lehrern, dass sie für Gerechtigkeit sorgen. Ihr Ansehen hängt ganz wesentlich davon ab, wie sie das Bedürfnis nach Gerechtigkeit befriedigen können. Und Gerechtigkeit setzt eben immer Aufklärung voraus.
Historiker bemühen sich, die Wahrheit über historische Ereignisse herauszufinden. Sie rehabilitieren die Guten durch Aufklärung über die wirklichen Vorgänge und verbreiten ihren Ruhm, die Bösen werden als Verbrecher entlarvt. Wir hoffen, dass Menschen Zeit und Kraft aufwenden, die Holocaust-Leugnung zu bekämpfen oder die türkische Regierung davon zu überzeugen, dass der Tod von über einer Million Armeniern im Ersten Weltkrieg Völkermord war. Die Ehrlichkeit, mit der die Deutschen in den letzten drei Jahrzehnten ihre Geschichte aufarbeiten, ist eine Tugend, die sie wohltuend unter den Nationen hervorhebt.
Die historische Forschung über Recht und Unrecht im Nationalsozialismus ist der letzte Dienst, den wir den Opfern des Systems erweisen können. Die Verbrecher müssen genannt und ihre Verbrechen beschrieben werden, ebenso die Taten der Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, damit wir uns ihrer bewundernd und verehrend erinnern können.
Die Wahrhaftigkeit unserer Freundschaften, unserer Ehen, unserer Lebensgemeinschaften und unserer beruflichen Zusammenarbeit ist für viele von uns die feste und einzige Basis, die uns erlaubt, ein sinnerfülltes und glückliches Leben zu führen.
Als ich noch Schulleiter in Salem war, geriet ich eines Tages unversehens in einen belastenden Konflikt mit einer Schülerin. Konflikte dieser Art ließen mich erfahren, wie schnell Ehrlichkeit zum Prüfstein einer Beziehung werden kann.
Bei einem Waldspaziergang traf ich auf eine Gruppe von fünfzehnjährigen Schülerinnen, die sich an einem beliebten Treffpunkt nach dem Mittagessen versammelt hatten. Als ich mich näherte, glaubte ich deutlich gesehen zu haben, dass ein Mädchen geraucht hatte, was streng verboten war. Ich sprach sie darauf an. Zu meinem Erstaunen erwiderte sie mit klarem Blick und ohne Zögern, sie habe nicht geraucht. Da Aussage gegen Aussage stand, bat ich sie, eine Nacht darüber zu schlafen und am nächsten Morgen zu mir zu kommen. Ich würde als wahr akzeptieren, was sie mir dann mitteilen werde.
Sie kam am nächsten Morgen und beteuerte, sie habe nicht geraucht. Die auf dem Boden liegende Kippe stamme nicht von ihr. Ich akzeptierte ihre Aussage, wie ich es angekündigt hatte. Ich vertraute ihr. Die anderen Mädchen als Zeuginnen zu befragen kam nicht in Frage. Wir dürfen als Lehrer und Erzieher, wie schon gesagt, Schüler nie auffordern, über ihre Mitschüler belastende Aussagen zu machen.
Der Anlass, der die Frage der Ehrlichkeit ins Spiel brachte, war geringfügig. Mein anfänglicher Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussage des Mädchens machte jedoch aus einer harmlosen Begegnung ein für unsere Beziehung bedeutsames Ereignis. Für mich war sofort klar, dass es für das Mädchen und mich entscheidend war, ob ich ihrer Aussage Glauben schenken würde. Der Umgang mit der Wahrheit entscheidet über die Qualität einer Beziehung, so habe ich es immer wieder erfahren. Eine Lüge kann eine gute Beziehung plötzlich aus dem Lot bringen, weil sie die Grundlage der Beziehung, das Vertrauen, gefährdet.
Das gilt nicht nur für die Welt der Pädagogik. Wir alle werden täglich,
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