Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
absolut gesehen hat wie die abendländische, die wir mit Sokrates und Jesus Christus verbinden.
Sokrates hat die Wahrheit seines Lebens durch seinen Tod beglaubigt. Die Wahrheit seines Lebens hieß Wahrhaftigkeit. Wahrheitssuche bildete den Kern seines Philosophierens. »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, mit dieser Haltung trat er den Menschen entgegen, die die Wahrheit zu kennen glaubten. Seine Haltung klingt noch in Lessings Wort nach, dass nicht der Besitz der Wahrheit, sondern die Bemühung um die Wahrheit den Wert des Menschen ausmache. Sokrates hat am Anfang unserer Geschichte einen Maßstab gesetzt: Wahrhaftigkeit begründet unsere Menschlichkeit. Wahrhaftigkeit war für ihn mehr als Wahrheitsliebe, Wahrhaftigkeit hieß für ihn tatkräftiges Eintreten für das, was er für richtig hielt.
Im Jahr 404/403 v. Chr. verweigerte er unter der Herrschaft der Dreißig, einer Diktatur, den Befehl, zusammen mit vier anderen einen unschuldigen Gegner der Diktatoren zu verhaften. Er ging einfach nach Hause und riskierte damit sein Leben. »Damals bewies ich wahrlich wieder nicht durch Worte, sondern durch die Tat, dass mich der Tod, wenn es nicht zu grob klingt, auch nicht so viel kümmert, dass mir aber alles daran liegt, nichts Unrechtes oder Unfrommes zu tun« (siehe Platon: Apologie des Sokrates ).
Sokrates war ein Aufklärer, aber nur bedingt. Durch rationalen Diskurs versuchte er, der Wahrheit näherzukommen. Aber trotz der Rationalität seines Denkens war er religiös. Er gehorchte seinem Daimonion, wie er die innere Stimme göttlichen Ursprungs nannte, die dem christlichen Gewissen gleicht. Sokrates war kein Atheist, seine Moral gründete in der Transzendenz.
»Das Leben ist der Güter höchstes nicht«, so lautet der Schlussvers von Schillers Trauerspiel Die Braut von Messina . Sokrates hat sich nach einer Güterabwägung zwischen dem Gut Leben und dem Gut Wahrhaftigkeit für die Wahrhaftigkeit entschieden. Es war seine freie Entscheidung. Die Behörden boten ihm an, er dürfe das Gefängnis verlassen, wenn er zukünftig auf öffentliche Auftritte verzichte. Das wäre einem Verzicht auf die Wahrheit seines Lebens gleichgekommen. Diese absolute Gültigkeit des Wertes der Wahrhaftigkeit verteidigte er gegen die Sophisten, die dafür bezahlt wurden, die Jugend zu schulen, wie sie die Wahrheit zu ihren Gunsten interpretieren und verteidigen können.
Jesus Christus hat die Wahrheit seines Lebens, die Wahrhaftigkeit, die Nächstenliebe, die Freiheit und die Gleichheit der Menschen vor Gott ebenfalls mit seinem Tod beglaubigt. Die Ethik der abendländischen Tradition ist in einer Erzählung zusammengefasst, dem »Gleichnis vom barmherzigen Samariter«. Die Menschen maßen ihr Handeln an diesem Ideal.
Alles, was Europa groß gemacht hat, hat es der Gültigkeit der Werte der Wahrhaftigkeit, der Nächstenliebe, der Freiheit und der Gleichheit zu verdanken: die Wissenschaft, die Aufklärung, die Menschenrechte und den Rechtsstaat. Diesem absolut gültigen Wert der Wahrhaftigkeit fühlte sich der ehrbare Kaufmann verpflichtet. Die Erinnerung an die Stifter unserer Kultur und Ethik war im Alltag präsent.
Der Macht des Geldes können wir nicht nur durch rationales Verhalten Herr werden, wir brauchen die über Generationen eingeübte moralische Haltung als Stütze. Familien, die so den Umgang mit Reichtum gelernt haben, werden ihren Kindern das Wissen über die Gefährdungen des Reichtums mitgeben. Sie werden außerdem den Umgang mit Geld einüben, indem sie Kargheit simulieren. Natürlich gibt es starke Charaktere, die auch ohne die Tradition einer Familie aus dem Stand das Richtige tun. Das ist aber selten. Wir Durchschnittsmenschen, auch die gebildeten unter uns, sind angewiesen auf ein stützendes Umfeld.
Die Kirchen dürfen es sich als Verdienst anrechnen, dass sie das Wissen über die Worte und Taten Jesu Christi tradiert haben. Bis zu Luthers Erscheinen hat die katholische Kirche mehr schlecht als recht diese Aufgabe wahrgenommen. Aber mit den Jahrhunderten ersetzte ihre dogmatische Lehre die Erzählungen über Leben und Lehre Jesu Christi. Die katholische Kirche lernte, erfolgreich mit der Lüge zu leben. Sie diente ihrer Machtvermehrung. Luther war es, der der Wahrhaftigkeit wieder zu Ansehen verhalf. Nach Luthers Reformation bemühte die katholische Kirche sich um mehr Ehrlichkeit. Leben und Lehre des Gründers traten wieder in den Mittelpunkt. Ohne diese Wende hätte sie nicht überlebt.
Im Juli 2012
Weitere Kostenlose Bücher