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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Bueb
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manchmal mehrmals am Tag, mit der Frage nach der Wahrheit konfrontiert. Mangelnde Ehrlichkeit kann störend, ja zerstörend wirken, selbst wenn die Unehrlichkeit nicht bemerkt wird. Denn auch unentdeckte Lügen wirken fatal. Der freche Lügner fühlt sich ermutigt, weiter zu lügen; der sensible Lügner, der an seiner Lüge leidet, wird Schuldgefühle entwickeln, die ihn und seine Beziehung zum Opfer seiner Lüge belasten.
    Ich bin mir bis heute sicher, dass meine Entscheidung, dem Mädchen zu glauben, richtig war. Wir können unseren Glauben an die Wahrheit einer Aussage nicht davon abhängig machen, dass sie beweisbar ist. Ja, wir müssen bereit sein, eine Aussage zu glauben, auch wenn Indizien dagegen sprechen.
    Einem fünfzehnjährigen Jungen, der des Diebstahls bei einem Mitschüler verdächtigt wurde und der seine Unschuld beteuerte, sie aber nicht beweisen konnte, glaubte ich. Ich folgte meiner damals erstaunlich sicheren Intuition nach einem Gespräch mit dem Jungen. Der wirkliche Täter bekannte sich später zu dem Diebstahl und bestätigte mein Vertrauen. Diese Begegnung mit dem Jungen und die existentielle Bedeutung des Vorgangs, erzeugt durch die Wahrheitsfrage, legten den Grundstein für eine lebenslange Freundschaft.
    Auch dem Mädchen vertraute ich, es fehlte nur der Beweis ihrer Unschuld. Nehmen wir jedoch einmal an, das Mädchen hätte mich angelogen und ich hätte mich getäuscht. Wie ich das Mädchen einschätzte, würde diese Lüge sie so sehr grämen, dass sie in Zukunft solche Lügen vermeiden würde. In diesem Fall würde die Erfahrung des eigenen Versagens sie später möglicherweise vor ähnlichem Versagen bewahren.
    Solche Erfahrungen zählen zu meinen pädagogischen Schlüsselerlebnissen. Sie lehrten mich, wie mühselig der Weg zur Wahrhaftigkeit ist und wie gefährdet wir, Erwachsene und Jugendliche, auf Schritt und Tritt sind. Jede Begegnung steht unter dem Anspruch der Wahrhaftigkeit. Als Schulleiter, als unterrichtender Lehrer, als Privatmann oder als Bürger, immer war dieser Anspruch präsent. Und nicht immer bin ich ihm gerecht geworden.
    An ihrer Bemühung um Wahrhaftigkeit habe ich auch andere Menschen gemessen. Ich hatte das Glück, einige Menschen seit Jahrzehnten zu kennen, die diesen Anspruch weit besser als ich erfüllen. Sie waren mir Vorbild, stützten aber auch meine Zuversicht.
    Wir leben in einer glaubensfernen Zeit. Die meisten von uns müssen den Sinn des Lebens selbst finden, weil Sinnangebote der Religionen oder Ideologien nicht mehr überzeugen. Der letzte Glaube, der uns bleibt und der unser Leben mit Sinn erfüllt, ist der Glaube an die Wahrhaftigkeit und die Macht der Aufklärung, der Glaube an den Sieg der Ehrlichen und an die gerechte Ordnung unseres Zusammenlebens.
    Auch gläubige Christen hoffen auf den Sieg der Ehrlichen, sie warten aber geduldig auf das Jüngste Gericht, das die weißen von den schwarzen Schafen trennen wird. Sie verlegen die Aufklärung ins Jenseits und vertrauen auf einen Richter, der die Wahrheit kennt. Wir müssen diese Aufklärung im Diesseits leisten. Wenn wir in einer Diktatur leben, wenn wir am Arbeitsplatz bei autoritärer Führung unter Lüge und Ungerechtigkeit leiden, bleibt als letzte Bemühung um Menschlichkeit, sich zu solidarisieren, um an der Aufklärung über die Lügen der Mächtigen zu arbeiten.

Wahrhaftigkeit bezieht ihre Kraft
aus der Tradition
    Die Erinnerung an das Verhalten der Väter und an die Erzählungen darüber begleitet den Alltag der moralischen Menschen. Wenn sie sich entscheiden müssen, fällt ihnen ein, wie sich ihre Eltern verhalten hätten oder wie sich vielleicht ein Lehrer, ein Onkel oder Freund der Familie verhalten hätte. Sie denken aber auch an die Worte und Taten von großen Vorbildern und Stiftern der Religion oder der Kultur, der sie sich zugehörig fühlen. Wer in Slums ohne die Zuwendung fürsorglicher Eltern und ohne die Erinnerung an die Vorbilder der Vergangenheit aufwächst, kann sich nicht an ein gutes Leben erinnern, weil es für ihn nicht stattfand. Er wird es schwer haben, ein gutes Leben zu führen.
    Die Kraft, die ein Leben aus der Tradition verleiht, scheint zu schwinden. Geschichtsvergessenheit ist die Ursache. Die Menschen vereinzeln, sie werden immer unsicherer, wissen nicht mehr, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen und wie sie handeln sollen. Die Erinnerung an die Geschichte ihrer Familie, ihres Volkes und ihrer gemeinsamen Kultur stärkt nicht mehr ihre Moral,

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