Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
gewonnen und einige glückliche Bedingungen des Aufwachsens erfahren haben? Ihnen können wir Pädagogen, Eltern, Lehrer und Erzieher weiterhelfen, wenn es uns gelingt, dem zarten Pflänzchen des Selbstvertrauens das Umfeld zu bieten, das es zu einem Strauch oder gar Baum heranwachsen lässt.
Wer Kinder bilden will, muss Wege suchen, wie man ihr Selbstwertgefühl stärken kann. Denn Menschen mit Selbstvertrauen wird das Glück zuteil, alles in ihrer Umwelt zum Anlass nehmen zu können, um sich zu bilden. Selbstwertgefühl entwickeln Menschen, wenn sie Anerkennung bekommen. Kinder brauchen die Anerkennung ihrer Person und ihrer Leistungen durch Erwachsene und Gleichaltrige. Also ist es die Aufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern, Gelegenheiten zu schaffen, in denen Kinder solche Anerkennung erhalten können.
Sie müssen erfahren, wie beglückend es ist, wenn ihnen eine Sache, die sie sich vorgenommen haben, gut gelingt. Damit dies gewährleistet wird, müssen Erwachsene sie dabei begleiten, ihnen aber auch abverlangen, dass sie sorgfältig arbeiten und die betreffende Sache zu Ende bringen. Gut gelingt uns alles, was wir mit Leidenschaft tun. Wir müssen Kindern daher helfen, ihre »Grande Passion« – wie es Kurt Hahn so treffend formuliert hat – entdecken zu können.
Was können wir Eltern raten, und wie soll sich die Institution Schule ändern, um Kinder zu ihrer Grande Passion zu verhelfen und damit ihr Selbstwertgefühl zu stärken?
Schule sollte ihren Begriff von Bildung daran orientieren, wie Goethe sich bildete. Es gibt Schulen, die sich darum bemühen. Dazu zählen reformpädagogisch inspirierte Schulen. Unter Reformpädagogik fasst man eine breitgefächerte Bewegung zusammen, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand und zum Ziel hatte, Schule neu zu denken. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nahmen verschiedene Varianten von reformpädagogisch inspirierten Schulen Gestalt an. Dazu gehörten Montessori-Schulen, Waldorfschulen und Landerziehungsheime. Diese Schulen denken nicht von der Prüfungsordnung her, sondern »vom Kinde her«. Das bedeutet: Lehrer fördern Kinder nicht nur intellektuell, sondern sie fördern auch die sozialen, musischen, handwerklichen und sportlichen Fähigkeiten der Kinder; sie haben den ganzen Menschen im Blick. Die Selbsttätigkeit der Kinder liegt ihnen am Herzen, ebenso deren Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Kinder sollen die Gemeinschaften mitgestalten, in denen sie leben und lernen, und in der Tradition der Kultur, der Bildung und der Moral ihrer Vorfahren aufwachsen. Sie sollen die Praxis eines guten Lebens erfahren.
Diese Schulen sehen die Beziehung von Lehrern zu Schülern nicht nur als Unterrichtsbeziehung. Lehrer sind nicht nur Wissensvermittler. Sie sind auch Theaterregisseure, Trainer, Dirigenten, Berater, Freunde, Helfer in sozialen Projekten, Feuerwehrhauptleute in Schülerfeuerwehren, Köche, Schachspieler, Politiker – sie übernehmen eine Vielzahl von Rollen, die eine Gesellschaft bereitstellt.
Besorgte Eltern hatten uns ihre vierzehnjährige Tochter anvertraut. Ihre schulischen Leistungen hatten dramatisch nachgelassen, und sie hatte begonnen, sich in der Klasse frech und vorlaut zu verhalten. Die Fürsorge der Eltern hatte sich seit Jahren auf zwei behinderte Geschwister, Zwillinge, konzentriert. Die Kindheit des Mädchens war daher von der Erfahrung geprägt, immer zurückstecken zu müssen. Die Eltern schickten sie zu uns ins Internat, weil sie glaubten, dass sie sich bei uns unabhängiger entwickeln könne.
Sie besaß wenig Selbstvertrauen, ihre schulischen Leistungen waren trotz guter Begabung auch bei uns weiterhin kläglich, ihr Verhalten blieb auffällig. Ihre Erzieherin konnte sie überreden, sich bei der Theatertruppe zu melden. Der betreuende Lehrer erkannte ihre Begabung, aber auch ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Sie erhielt eine tragende Rolle, sie brillierte als Schauspielerin. Zum ersten Mal fühlte sie sich vorbehaltlos anerkannt vom regieführenden Lehrer, aber auch von ihren Mitspielern und nicht zuletzt vom Publikum. Sie stand im Mittelpunkt. Sie lebte auf, ihr erwachendes Selbstwertgefühl strahlte auf ihr gesamtes Verhalten aus. Ihre schulischen Leistungen wurden allmählich besser. Sie musste nicht mehr dauernd auf sich aufmerksam machen.
Das oberste Ziel der reformpädagogischen Bewegung lautet immer, Kinder in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken. Damit schaffen diese Schulen
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