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Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)

Titel: Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Bueb
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weil sie sie nicht kennengelernt haben. Sie bewegen sich vorwiegend im Internet, dem Medium der Gleichzeitigkeit.
    Ein Investmentbanker vermehrt erst in Tokio sein Geld, setzt die Geldvermehrung in Singapur fort und versucht dann sein Glück in Frankfurt. Welche Ethik gilt für ihn? Er fühlt sich keiner der Kulturen zugehörig, in deren Dunstkreis er arbeitet. Wahrscheinlich kennt er die Kulturen gar nicht. Er bewegt sich in einer globalen Kultur, und die heißt: Freiheit der Märkte. Hier herrscht das Gesetz des Darwinismus. Für ihn gilt keine tradierte Moral, kein in Jahrhunderten gewachsenes Ethos, Geschichte ist für ihn bedeutungslos geworden.
    Konservativ nennt man die Haltung, aus dem zu leben, was immer gilt. Die Konservativen bauen an der Zukunft aus der Erinnerung an die Wahrheiten ihrer Vorfahren. »Das Wahre war schon längst gefunden, / Hat edle Geisterschaft verbunden; / Das alte Wahre, fass es an!« – »Vermächtnis« heißt das Gedicht von Goethe, aus dem diese Zeilen stammen. Er verkörperte wie kein anderer eine konservative Haltung. Früher schrieben wir noch Aufsätze über das Goethe-Zitat »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!«. Ob jungen Menschen dazu noch viel einfiele? Sind die Konservativen eine aussterbende Gattung? Unsere geschichtsvergessene Zeit hält sie für Reaktionäre, für rückwärtsgewandte Ewiggestrige.
    Wir vertrauen nicht mehr auf die stärkende Kraft der Geschichte. Es steht aber noch schlimmer: Vielen Menschen, auch Konservativen, ist die Geschichte ihrer Familie, ihres Volkes und vor allem ihrer Moral gleichgültig geworden.
    Wir sollten nie vergessen, dass wir aus einer Kultur stammen, in der Wahrhaftigkeit einmal als absoluter Wert galt, auch wenn dieser Wert in der Praxis immer wieder verraten wurde. Diese Kultur haben Menschen begründet, die bereit waren, für die Wahrheit zu sterben. Über sie wissen vor allem die jüngeren Zeitgenossen nichts mehr und wollen es auch nicht, weil sie es absurd finden, dass jemand bereit ist, für die Wahrheit zu sterben. Es fallen ihnen hierzu höchstens Islamisten ein, die für ihre fundamentalistische Wahrheit sterben.
    Die Relativierung der Gültigkeit der Werte hat mit dem Verlust der Religion begonnen. Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen zu retten, was zu retten ist. Sie begründen die moralischen Werte aus der Vernunft: Die Menschen müssten nicht mehr an die Offenbarung Gottes glauben, um zu wissen, dass es eine unverrückbare Gültigkeit von Werten gibt. Aber die philosophischen Begründungen wirken nicht so stark wie die Erzählungen der Religionen.
    Vor Jahren verzweifelten Bekannte von mir, weil ihr vierjähriger Sohn jeden Abend von Ängsten vor dem Teufel heimgesucht wurde. Andere Kinder hatten ihm erzählt, dass der Teufel nachts in den Garten käme, um ihn abzuholen. Die aufgeklärten Eltern versuchten, ihm die Unsinnigkeit dieser Erzählungen zu erklären. Es bewirkte nichts. In ihrer Not wandten sie sich an ihren Pfarrer. Der erteilte einen klugen Rat: Der Teufel müsse auf demselben Weg verschwinden, wie er in das Leben des Jungen gelangt sei. Sie sollten Geschichten erzählen, wie der Teufel den Garten wieder verlassen habe. Sie hatten Erfolg.
    Die wirksamen Wertesysteme in der Geschichte der Menschheit erhielten ihre Kraft in Gestalt eines Gründers und durch die Erzählungen, die sich um seine Person rankten. Ich habe es immer als Glücksfall empfunden, dass bedeutende Persönlichkeiten Salem gegründet haben. Lehrer und Schüler in Salem beriefen sich auf den spiritus rector unter den Gründern, Kurt Hahn. Sie fühlten sich eins mit der Tradition der Schule, wenn sie sich ehrlich verhielten oder Schwächeren halfen. Uns besuchte einmal der Leiter eines befreundeten Internats, das von einem Unternehmerverband gegründet worden war. »Ich beneide Sie um Ihren Kurt Hahn. Uns fehlt eine Gründerfigur, auf die wir uns berufen und über deren Leben und Wirken wir Geschichten erzählen können.«
    Religion ist heute leider beinahe ausschließlich in ihrer fundamentalistischen Ausprägung einflussreich und gesellschaftlich präsent. Ich denke an die Evangelikalen im amerikanischen und europäischen Protestantismus, die dogmatischen Vatikanideologen oder die Minderheit der Islamisten. Sie prägen unser Bild von Religion. Die Erinnerung an Jesus Christus oder an die großen Epochen der Toleranz des Islam ist verlorengegangen. Es gibt keine Ethik, die den Wert der Wahrhaftigkeit so

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