Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
in dem Haus eine neue Welt erschuf«. Die Kinder nahmen teil an dem lebhaften Treiben der Nachbarn, der strenge Vater unterrichtete den Knaben, die Mutter, »stets heiter und froh«, begleitete sein Aufwachsen mit ausgleichender Freundlichkeit. Krankheit und Tod begegneten ihm früh, er erfuhr, in der Schule ausgegrenzt zu werden, drei Geschwister starben in frühen Jahren, Berichte über das Erdbeben in Lissabon nahmen dem Sechsjährigen seinen Kinderglauben – so etwa beginnt Johann Wolfgang von Goethe die Beschreibung seiner ersten Jahre in »Dichtung und Wahrheit«, seiner zwischen 1808 und 1831 entstandenen Autobiographie. Wir erfahren, wie er sich willkommen fühlte in dieser Welt, wie unbekümmerte Neugier ihn trieb und wie ihn alles bildete, was ihm begegnete, Menschen, Ereignisse und Sachen. Die glücklichen Bedingungen seiner Anlagen und seines Aufwachsens ließen ihn zu einem Menschen heranwachsen, der immer mehr in sich ruhte.
Solche Bildung unterscheidet sich gewaltig von der dürren Bildung, die in akademischer Exzellenz ihre Bestimmung sieht und heute unsere Schulen dominiert. Die Familie erzieht, die Schule bildet. Diese sehr deutsche Unterscheidung galt für Goethe nicht. Sein Selbstwertgefühl wuchs aus der Buntheit seiner Erfahrungen, aus der freundlichen Zuwendung vieler Menschen und aus den Vorbildern, die er bewunderte. Es gab auch Phasen der Belehrung. Sie beherrschten aber nicht seinen Bildungsgang.
Goethe hat in seiner Kindheit zwei Erfahrungen gemacht: Er hat in seinem Elternhaus das Urvertrauen gewonnen, das zu einer ehrlichen Haltung führt. Und er wuchs in der Tradition seiner Familie, seiner Stadt und seiner Kultur auf, die das Rückgrat seiner Moral bildete.
Ich habe Kinder erlebt, die sich wie Goethe willkommen fühlten in der Welt und die daher ehrlich zu sich ja sagen konnten. Sie blieben sich treu und konnten »nicht falsch sein gegen irgendwen«. Aber leider habe ich auch Kinder erlebt, die sich schwertaten, ja zu sich zu sagen, und die früh begannen, sich und anderen etwas vorzumachen. Und es waren nicht wenige.
Ich erinnere mich an ein Mädchen, das uns faszinierte. Sie war schön, vital und klug, aber unfähig, Vertrauen zu Menschen aufzubauen. Wir nahmen sie auf, weil uns ihre unglückliche Lebensgeschichte berührte, aber auch, weil sie eine eigene Ausstrahlung besaß. Sie kam zu uns mit fünfzehn Jahren, ihre Eltern brachten ihr Leben nicht auf die Reihe, deswegen wurde sie früh in ein Heim gegeben. Entsprechend bindungsarm ging sie ihren Weg, konnte aber aufgrund ihrer Begabung das Gymnasium besuchen. Wir strengten uns sehr an, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ihre Antwort war Misstrauen, sie log eigentlich permanent, weil sie es nicht anders kannte. Eine Lehrerin, mit Herz und Verstand Kindern zugetan, die zugleich ihre Erzieherin im Internat war, nahm sich ihrer mit Fürsorge, aber auch mit Strenge an. Sie wurde von anderen Lehrern unterstützt. Alle scheiterten.
Als sie achtzehn wurde, verschwand sie. Dreißig Jahre später hat sie mich besucht. Eine gebrochene Frau von fast fünfzig Jahren stand vor meiner Tür. Sie hatte sich durchs Leben gemogelt, niemandem Böses getan, aber auch zu niemandem Vertrauen gefasst. Sie kannte nur die Kategorien »nützlich« und »schädlich«, sie kannte nicht das Vertrauen ohne Hinterabsichten. Es war ihr immer noch nicht zu helfen.
Diese Erfahrung hat mir bestätigt, dass wir Jugendliche sehr viel schwerer zur Ehrlichkeit erziehen können, wenn sie in der Kindheit nur in Ansätzen erfahren durften, angenommen zu sein. Jugendliche, denen das Glück des Urvertrauens nicht zuteilwurde, werden auf Vertrauen nicht mit Vertrauen reagieren. Sie brauchen trotzdem Vertrauen, aber ein Vertrauen, das verbunden ist mit enger Führung, mit einem klaren Rahmen und mit – leider – viel Kontrolle. Die Erziehenden müssen die Gelegenheiten, das Vertrauen zu enttäuschen, auf ein Minimum reduzieren. Denn Gelegenheit macht Diebe.
Goethe bleibt eine Ausnahmeerscheinung, weil diese Kombination von Begabung, Ausstrahlung und glücklichen Umständen des Aufwachsens singulär ist. Die Mehrzahl der Menschen wächst in einer Mischung von glücklichen und unglücklichen Bedingungen auf. Goethes Aufwachsen darf uns Pädagogen als Ideal dienen; das Mädchen, das sich in der Lüge eingerichtet hatte, repräsentiert eine unglückliche Minderheit, die uns die Grenzen von Bildung zeigt.
Wie bilden sich Kinder und Jugendliche, die ein bisschen Urvertrauen
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