Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
die Voraussetzungen, um Kinder zu ehrlichen Menschen zu erziehen.
Besondere Merkmale charakterisieren solche Schulen. An erster Stelle nenne ich Zeit. Bildung braucht Zeit – Zeit, um sich auf andere Menschen einzulassen, um vielfältigen Tätigkeiten nachzugehen, um im Wechsel von Aktivität und Ruhe zu sich selbst zu finden. Junge Menschen sollten daher den ganzen Tag in die Schule gehen.
Außerdem brauchen Kinder Gemeinschaften von Erwachsenen und Gleichaltrigen. Denn dort können sie die Anerkennung für ihre Person und ihre Leistungen bekommen, die sie zur Entwicklung ihres Selbstwertgefühls brauchen. Den Nutzen und die Notwendigkeit von Ehrlichkeit erfahren sie nur in Gemeinschaften. Tugenden wie Ehrlichkeit müssen geübt werden. Hirnforscher weisen darauf hin, dass im Gehirn neuronale Pfade angelegt werden müssen. Ehrlichkeit sollte zur Selbstverständlichkeit werden. Kinder und Jugendliche sollten daher Ehrlichkeit in häufig wiederkehrenden Konfliktsituationen einüben können. Aus den beglückenden Erfahrungen, die Ehrlichkeit erzeugt, sollte ein tiefverankertes Handlungsmuster werden.
Ich kann darauf verzichten, Schulen vorzustellen, die eine Vielzahl der hier genannten reformpädagogischen Ansätze umsetzen, weil das Internet auf diesem Gebiet eine segensreiche Wirkung entfalten kann. Wenn Sie »Deutscher Schulpreis« oder »Blick über den Zaun« eingeben, können Sie solche Schulprojekte kennenlernen. Die Vitalität pädagogischer Praxis wird hier sichtbar. Diese Schulen sind auch ein Beispiel für die Fähigkeit unserer Gesellschaft, sich zu erneuern.
Wenn Schule Bildung so begriffe, würde sie das Lügen überflüssig machen. Denn Schüler bräuchten ihre individuellen Defizite nicht mehr durch Betrug auszugleichen. Das heißt natürlich nicht, dass Schüler an reformpädagogisch orientierten Schulen nicht mehr lügen. Aber das systembedingte Lügen würde sich reduzieren. Ebenso stiegen die Chancen, dass mehr Schüler in der Schule ihr Selbstwertgefühl stärken könnten, sich weniger mit anderen vergleichen würden und dadurch ihre Schwächen weniger durch Lügen kompensieren müssten.
Der Wille zu Wahrhaftigkeit ist so elementar wie der Lebenswille
Die Epoche der Aufklärung hat uns gelehrt, welche fundamentale Bedeutung Wahrhaftigkeit im Leben der Menschen besitzt. Ohne den Glauben an den absoluten Wert der Ehrlichkeit sind wir verloren. Die Bemühung um Wahrhaftigkeit ist wie eine feste Burg, die uns Sicherheit bietet und uns vor Lügen schützt.
Die historische Bewegung der Aufklärung ist die späte Konsequenz des Glaubens an den absoluten Wert der Wahrhaftigkeit. Die Menschen entdeckten damals, dass sie in einem entscheidenden Punkt unwahrhaftig waren, nämlich wenn es um den Sinn ihres Lebens ging. Sie hatten diesen Sinn in ein unzugängliches Jenseits verlegt. Sie hatten ihren Verstand abgegeben. Der Verstand konnte und durfte aber nicht länger als wahr hinnehmen, was seinem prüfenden Blick nicht standhielt.
Der Verstand hielt an dem absoluten Wert der Wahrhaftigkeit fest. Denn dem Glauben an diesen Wert hatten die Menschen zu verdanken, dass sie sich von der Vormundschaft der Kirchen befreien konnten.
Wahrhaftig zu sein ist die Bestimmung des Menschen. Der Wille zur Wahrhaftigkeit ist so elementar wie der Lebenswille. Einzelnes Leben kann durch Krankheit oder Bosheit eingeschränkt oder vernichtet werden. Das Leben aber geht weiter. So ist es auch mit der Wahrhaftigkeit. Die Lüge ist nur eine unerklärbare Verirrung und entfernt den Menschen von seiner Bestimmung.
Die Aufklärer riefen daher dazu auf, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Für Immanuel Kant war das vor allem eine Frage des Mutes. Wir vertrauen seitdem auf die Macht von Aufklärung, wenn Lügen und Verleumdungen uns heimsuchen. Wir bringen aber nicht immer den Mut auf, die Aufklärung zu betreiben und für das als wahr Erkannte mutig einzutreten.
Das Vertrauen in die Macht der Aufklärung gibt uns Menschen Zuversicht und stärkt unsere Hoffnung, in einer ungerechten Welt Gerechtigkeit erlangen zu können. Gerechtigkeit wiederum setzt den Glauben voraus, dass sich die Wahrheit über einen als ungerecht empfundenen Sachverhalt herausfinden lässt. Deswegen klagen wir vor Gericht, wenn wir Unrecht erfahren. Oder wir vertrauen auf die Medien, dass sie die Machenschaften von Betrügern oder die Lügen einer autoritären Führung anprangern.
Ein ehrliches Eingeständnis ist der erste Schritt, mit einer
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