Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
gesprochen. Er hat sie als Gefangene eines Systems der Lüge erlebt, aus dem nur wenige fliehen wollten. Die Zyniker unter ihnen genießen ihren Erfolg, die Aussteiger wissen, dass der Erfolg der Zyniker das Ende der Humanität einläutet. Sie bekennen sich aber nicht öffentlich zu ihrer Kritik, weil sie das ihre Betriebsrenten kosten könnte.
Nicht nur im Bankensektor wird gelogen, auch Versicherungskunden werden mit Versprechungen gelockt, die im Ernstfall nicht eingelöst werden. Stattdessen wird mit allen Schikanen verhindert, dass die Versicherung zahlen muss. Solche Machenschaften haben das gute Gewissen von Beatrix Hüller, einer Juristin, die jahrelang als Schadensreglerin bei einer Versicherung arbeitete, so sehr geplagt, dass sie die Seiten wechselte und ihr Wissen heute nutzt, um diese Lügen vor Gericht aufzudecken. »Ich muss etwas wiedergutmachen«, sagte sie in der Zeit vom 3. Januar 2013.
Die Macht der Ehrlichen beruht nicht allein auf ihrer aufrechten Haltung und ihrem guten Willen. Sie beruht auch auf Eigenschaften und Fähigkeiten, die wir nicht spontan mit Ehrlichkeit verbinden. Gandhi und Mandela etwa hatten nicht ausschließlich eine sanfte Seite, wie es fälschlicherweise vor allem im Schulunterricht dargestellt wird, sondern sie waren gewiefte Machtpolitiker. Sie wussten – im Gegensatz zu vielen Kämpfernaturen in ihren eigenen Reihen –, dass der friedliche Weg der einzig erfolgversprechende war, um sich gegenüber den wankenden Mächten, dem britischen Weltreich wie der Burenherrschaft in Südafrika, durchzusetzen.
Die Macht der Ehrlichen beruht daher auch auf Klugheit. »Seid klug wie die Schlangen«, wenn ihr die Wahrheit in die Welt tragt, so lehrte es Jesus Christus seine Jünger. Er riet tatsächlich, sich der Methoden der Bösen, der Schlangen, zu bedienen, um die Wahrheit zu verbreiten. Die Methoden an sich sind neutral, sie werden erst moralisch oder unmoralisch je nachdem, welchem Zweck sie dienen.
Der Ehrliche braucht Ausdauer, denn kurzfristig siegt beinahe immer die Lüge. Menschen fürchten mit Recht die Macht des Lügners. Dieser vertraut darauf, dass andere ihn für ehrlich halten. Solange dieses Vertrauen nicht erschüttert wird, kann man dem Lügner schwer beikommen. Wird es darüber hinaus gestützt – durch äußere Autorität, Beliebtheit, rhetorische Begabung oder Chuzpe –, dann geht derjenige, der ihm widerspricht, ein hohes Risiko ein. Wenn er nicht über die gleiche Autorität, Beliebtheit, Frechheit oder rhetorische Begabung verfügt, wird er kurzfristig den Kürzeren ziehen.
Um zu erkennen, wie der andere die Wahrheit akzeptieren bzw. vielleicht ertragen und aushalten kann, muss sich der Ehrliche in die Situation seines Gegenübers einfühlen können, er muss Phantasie aufbringen, um dessen mögliche Reaktionen vorauszusehen, und er muss optimistisch an den Erfolg der Wahrhaftigkeit glauben.
Erdem Gündüz, Choreograph und Performancekünstler, stand nach den Polizeieinsätzen gegen protestierende Bürger in Istanbul im Juni 2013 acht Stunden bewegungslos auf dem Taksim-Platz und starrte ein Porträt von Atatürk an. »Ich protestiere gegen die Sprachlosigkeit der türkischen Medien und gegen die Gewalt der Polizei«, begründete er sein Tun. Viele ahmten ihn nach. Auf diese Form des Protestes reagierte die Polizei hilflos. So etwas muss einem einfallen! Die Bilder gingen um die ganze Welt.
Ehrlichkeit ohne Mut und Konfliktbereitschaft taugt wenig. Wer die Wahrheit aufdeckt oder mitteilt, muss damit rechnen, auf Widerstand zu stoßen, schlimmstenfalls muss er Nachteile in Kauf nehmen. Die mächtigen Lügner wehren sich, sie werden sich rächen, denn die Wahrheit zerstört ihr Lügengebäude und hindert sie daran, unkontrolliert Macht auszuüben. Ehen und Freundschaften können nicht gelingen, wenn die Partner nicht den Mut zur Ehrlichkeit aufbringen. Zivilcourage nennen wir den sozialen Mut, ohne den keine Demokratie bestehen kann.
Am 7. Oktober 2006 um fünf Uhr nachmittags wird die Journalistin Anna Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses im Zentrum von Moskau erschossen. Sie hatte während des Tschetschenienkrieges über die Verbrechen der russischen Armee, über Mord, Folter, Vergewaltigung und Korruption berichtet und dadurch den Unmut der Mächtigen auf sich gezogen. Bei uns gilt sie als Ikone des investigativen Journalismus. Sie wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet.
Anna Politkowskaja wird als Fanatikerin der Wahrheit beschrieben.
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