Die Macht der Ehrlichen: Eine Provokation (German Edition)
voll von Heuchelei und Gesetzesverachtung« war. Je höher der Bürger im Ansehen steht, desto unbarmherziger wird über ihn gerichtet. Kaum jemand wartet, bis ein Gericht ein Urteil gesprochen hat.
Besonders gefährdet sind diejenigen, die vermeintlich schlecht weggekommen sind. Menschen zum Beispiel, die nicht wohlhabend sind, entwickeln häufig ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber reichen Leuten. Es ist ein psychischer Mechanismus, Neid und andere missgünstige Regungen dadurch zu neutralisieren, dass man denjenigen, der vermeintlich besser weggekommen ist, moralisch abwertet. Deswegen ist Pharisäismus linken Bewegungen nicht fremd.
Ehrliche Menschen müssen sich fortwährend selbst prüfen, ob sie der Verführung zur Selbstgerechtigkeit nicht erliegen. Sie brauchen Freunde, die sie davor schützen. Denn Ehrliche sind nur dann mächtig, wenn sie sich immer wieder selbstkritisch prüfen, ob sie sich nicht doch über andere erheben und über sie richten.
»Versuch, in der Wahrheit zu leben.
Von der Macht der Ohnmächtigen.«
Václav Havel
Ein Gemüsehändler im kommunistisch beherrschten Prag der sechziger Jahre beschließt eines Tages, das Spruchband »Proletarier aller Länder vereinigt euch!« aus seinem Schaufenster zu entfernen. Bis zu diesem Zeitpunkt hing es immer dort, so wie es die Partei verlangt hatte.
Durch eine solche Rebellion wird der Gemüsehändler aus dem »Leben in Lüge« austreten, das Ritual ablehnen und die »Spielregeln« verletzen. Er wird wieder seine unterdrückte Identität und Würde finden, seine Freiheit verwirklichen. Seine Rebellion wird ein Versuch für das Leben in Wahrheit sein.
Die Rechnung wird ihm schnell präsentiert werden: Er wird seinen Posten verlieren und zum Beifahrer eines Lieferwagens degradiert werden. Sein Gehalt wird herabgesetzt. Seine Hoffnung, eine Urlaubsreise nach Bulgarien zu machen, wird er aufgeben müssen. Die weitere Schulausbildung seiner Kinder wird bedroht. Die Vorgesetzten werden ihn schikanieren, und seine Mitarbeiter werden sich über ihn wundern.
…
Der Gemüsehändler beging nämlich nicht nur irgendein individuelles, in seiner Einmaligkeit abgeschlossenes Vergehen, sondern er hat etwas unvergleichbar Gewichtigeres getan: Dadurch, dass er die »Spielregeln« verletzte, hat er das Spiel als solches abgeschafft. Er hat die Machtstruktur dadurch verletzt, dass er ihre Bindungen durchlöchert hat; er zeigte, dass das »Leben in Lüge« ein Leben in Lüge ist. Er hat die Fassade des »Erhabenen« durchbrochen und enthüllt die wirkliche, das heißt niedere »Basis« der Macht. Er sagt, dass der Kaiser nackt ist. Und da der Kaiser wirklich nackt ist, ist das, was passierte, unheimlich gefährlich: Durch seine Tat hat der Gemüsehändler die ganze Welt angesprochen, er hat jedem ermöglicht, hinter die Kulissen zu schauen; er hat gezeigt, dass man in der Wahrheit leben kann .
…
Der Totenschleier des »Lebens in Lüge« ist aus einem sonderlichen Stoff gemacht – solange er die ganze Gesellschaft luftdicht bedeckt, scheint er aus Stein zu sein. In dem Moment aber, wo ihn jemand an einer einzigen Stelle durchlöchert, wenn ein einziger Mensch »Der Kaiser ist nackt« ruft, wenn ein einziger Spieler die Spielregeln verletzt und dies somit als Spiel entlarvt, kommt plötzlich alles in ein anderes Licht, und der ganze Schleier wirkt, als ob er aus Papier wäre – als ob er anfängt, unaufhaltsam in kleine Fetzen zu zerfallen.» 6
Diese Zeilen stammen aus dem Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben, das der tschechische Regimekritiker und Schriftsteller Václav Havel geschrieben hat, als die kommunistische Regierung an der Macht war. Als Folge seiner Wahrhaftigkeit hat er fünf Jahre im Gefängnis verbracht. Wie Sokrates lehnte er das Angebot ab, freizukommen, wenn er auf Äußerungen der Wahrheit verzichten würde.
Wir leben in Deutschland in einer Demokratie. Trotzdem bleiben wir gefährdet, ein Leben in Lüge zu führen. Auch in Demokratien gibt es Unfreiheit. Sichtbare oder unsichtbare Diktate herrschen über uns: das Diktat einer Familientradition, das Diktat einer autoritären Führung, das Diktat der Tugend, das Diktat politischer Korrektheit, das Diktat der Kirche, das Diktat des eigenen Narzissmus, aber auch das Diktat des Geldes oder der Leistungsgesellschaft und nicht zuletzt das Diktat einer Selbstlüge – alle leben in der Lüge, die sich solchen Diktaten unterwerfen, ohne ihren Verstand einzuschalten.
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