Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
Rechts von mir zeichnet sich in einiger Entfernung die zerklüftete Silhouette eines Berges gegen die untergehende Sonne ab. Zu meiner Linken liegt das Meer. Ein schwarz gekleidetes Mädchen mit dunklem Haar und auffallend grauen Augen taucht aus dem Nichts auf. Sie lächelt entschlossen und zuversichtlich. Es gibt nur uns beide. Dann spüre ich eine große Erschütterung hinter mir, so, als würde plötzlich ein Erdbeben einsetzen, und der Boden wird gespalten und aufgerissen. Ich drehe mich nicht um, um nachzusehen, was tatsächlich hinter mir passiert. Das Mädchen streckt seine Hand aus und deutet mir an, sie zu ergreifen, während es mich fest ansieht. Ich nehme seine Hand. Meine Augen öffnen sich.
Durch die Fenster dringt Licht herein. Obwohl es sich so anfühlt, als wären nur Minuten vergangen, ist die Nacht in Wirklichkeit vorbei. Mit einer Kopfbewegung schüttele ich den Traum ab. Sonntag ist Ruhetag, doch ironischerweise für uns der arbeitsreichste Tag. Er beginnt mit einer langen Messe.
Dem Anschein nach versammelt sich die große Menge der Bewohner wegen des Gottesdiensts, doch der tatsächliche Grund ist El Festín, das große Festmahl nach der Messe. Alle, die hier im Kloster wohnen, müssen mithelfen. Ich bediene die Warteschlange in der Cafeteria. Erst nach dem Essen bekommen wir frei. Wenn ich Glück habe, bin ich um vier Uhr fertig. Dann müssen wir erst bei Sonnenuntergang wieder erscheinen. Um diese Jahreszeit geht die Sonne kurz nach sechs Uhr unter.
Wir stürzen unter die Dusche, putzen uns die Zähne und kämmen unser Haar. Dann schlüpfen wir in unsere schwarzweiße Sonntagstracht, die nur Hände und Gesicht freilässt.
Als fast alle Mädchen den Schlafraum verlassen haben, kommt Adelina herein. Sie bleibt vor mir stehen und richtet den Kragen meines Gewands. Dadurch fühle ich mich plötzlich viel jünger, als ich es tatsächlich bin. Ich höre das Gedränge der Menschen, die in die Kirche strömen. Adelina sagt nichts. Ich schweige ebenfalls. Zum ersten Mal fallen mir die grauen Strähnen in ihrem kastanienbraunen Haar auf. Um ihre Augen und ihren Mund haben sich Falten gebildet. Sie ist zweiundvierzig, sieht aber zehn Jahre älter aus.
»Ich habe von einem Mädchen mit schwarzem Haar und grauen Augen geträumt«, breche ich das Schweigen. »Sie wollte, dass ich ihre Hand nehme.«
»Aha«, erwidert sie, anscheinend unsicher, wieso ich ihr von diesem Traum erzähle.
»Glaubst du, sie könnte eine von uns sein?«
Adelina zupft noch einmal an meinem Kragen herum. »Ich denke, du solltest nicht zu viel in deine Träume hineindeuten.«
Ich möchte ihr widersprechen, weiß aber nicht recht, was ich antworten soll. Stattdessen sage ich: »Es hat sich sehr real angefühlt.«
»Manche Träume sind so.«
»Aber vor einiger Zeit hast du mal gesagt, dass wir auf Lorien über längere Distanzen miteinander kommunizieren konnten.«
»Ja, und gleich danach habe ich dir Geschichten von einem Wolf erzählt, der Häuser umpusten kann, und von einer Gans, die goldene Eier legt.«
»Das waren Märchen.«
»Alles ist ein großes Märchen, Marina.«
Ich knirsche mit den Zähnen. »Wie kannst du das sagen? Wir beiden wissen, dass es kein Märchen ist. Wir beide wissen, woher wir kommen und weshalb wir hier sind. Ich verstehe nicht, warum du so tust, als kämest du gar nicht von Lorien und hättest nicht die Aufgabe, mir etwas beizubringen.«
Sie verschränkt ihre Hände hinter dem Rücken und sieht zur Decke. »Marina. Seitdem du und ich hier sind, hatten wir das Glück, etwas über die Wahrheit der Schöpfung zu erfahren. Wo wir herkommen und was unsere wirkliche Aufgabe auf Erden ist. All das steht in der Bibel.«
»Ist die Bibel etwa kein Märchen?«
Sie versteift sich, runzelt die Stirn und spannt die Kiefermuskeln an.
»Lorien ist kein Märchen«, sage ich, bevor sie etwas erwidern kann, und mithilfe der Telekinese hebe ich ein Kissen vom Bett neben mir auf und wirbele es in der Luft herum.
Adelina reagiert, indem sie etwas macht, was sie noch nie zuvor getan hat: Sie ohrfeigt mich. Fest. Ich lasse das Kissen fallenund presse meine Hand an die schmerzende Wange. Erstaunt sehe ich sie an.
»Untersteh dich bloß, das irgendjemanden sehen zu lassen!«, sagt sie wütend.
»Was ich gerade getan habe, ist kein Märchen. Ich bin keine Märchenfigur. Du bist meine Cêpan und ebenfalls
keine
Märchenfigur.«
»Nenn es, wie du willst«, erwidert sie.
»Aber hast du denn die Nachrichten nicht
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