Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
ein Lächeln nicht unterdrücken, doch als mich abwende, sehe ich Schwester Dora, die mich finster ansieht. Ich senke den Kopf, schließe die Augen und gebe zu beten vor, indem ich Vater Marcos Worte mit den Lippen nachforme. Doch ich weiß, dass ich erwischt wurde. Schwester Dora scheint immer förmlich aufzublühen, wenn sie uns bei etwas beobachtet, was wir nicht hätten tun sollen.
Mit einem Kreuzzeichen schließt der Priester das Gebet abund beendet endlich die Messe. Vor allen anderen bin ich aufgestanden und eile von der Kirche in die Küche. Schwester Dora mag zwar die korpulenteste Schwester sein, verfügt jedoch im Fall des Falles immer über erstaunliche Beweglichkeit. Ich will mich nicht dem Risiko aussetzen, dass sie mich abfängt. Wenn ich es schaffe, entgehe ich vielleicht einer Bestrafung. Und es gelingt mir tatsächlich, denn als sie fünf Minuten später die Cafeteria betritt, sitze ich neben einer schlaksigen Vierzehnjährigen mit Namen Paola und ihrer zwölf Jahre alten Schwester Lucia und schäle Kartoffeln.
Schwester Dora starrt mich bloß an.
»Was ist denn mit der los?«, fragt Paola.
»Sie hat mich während der Messe lächeln sehen.«
»Sei froh, dass es deswegen nichts mit dem Stock gibt«, nuschelt Lucia durch halbgeöffnete Lippen.
Ich nicke und widme mich wieder meiner Arbeit. So selten sie auch sein mögen, bringen uns Mädchen diese wenigen Momente doch näher zusammen und wir stehen vereint gegen einen gemeinsamen Feind. Als ich noch jünger war, glaubte ich, dass diese Gemeinsamkeiten sowie die Tatsache, unter demselben tyrannischen Waisenhausdach leben zu müssen, uns augenblicklich zu Freunden fürs Leben machen würden. Doch tatsächlich brachte uns das alles nur weiter auseinander. Es bildeten sich kleine Fraktionen in unserer ohnehin schon kleinen Gruppe – die hübschen Mädchen blieben unter sich (mit Ausnahme von La Gorda, die zwar nicht hübsch, aber trotzdem ein Mitglied dieser Fraktion ist), ebenso die klugen, die sportlichen sowie die jungen – sodass ich am Ende allein übrig blieb.
Nach einer halben Stunde ist alles fertig und wir tragen das Essen aus der Küche zur Warteschlange. Die wartende Menge applaudiert. Am Ende der Schlange entdecke ich die Person, die ich in Santa Teresa am liebsten mag: Héctor Ricardo. SeineSachen sind schmutzig und zerknittert, sein Haar ist zerzaust. Er hat blutunterlaufene Augen, was einen auffälligen Gegensatz zur Farbe seines Gesichts bildet. Sogar aus der Entfernung kann ich erkennen, dass seine Hände leicht zittern, so wie es sonntags, dem einzigen Tag, an dem er nicht trinkt, immer ist. Heute sieht er besonders mitgenommen aus. Doch als er schließlich an die Reihe kommt und sein Tablett hochhält, zaubert er das optimistischste Lächeln auf seine Lippen, zu dem er fähig ist.
»Wie geht es dir, Königin der Meere?«, fragt er.
Zum Dank mache ich einen Knicks. »Es geht mir gut, Héctor. Und dir?«
Er zuckt mit den Schultern. »Das Leben ist wie ein guter Wein: Man soll es kosten und genießen.«
Ich lache. Héctor hat immer irgendeinen klugen Spruch auf Lager.
Ich war dreizehn, als ich Héctor zum ersten Mal begegnete. Er saß vor dem einzigen Café auf der Calle Principal und trank eine Flasche Wein ganz für sich allein. Es war mitten am Nachmittag und ich war auf dem Weg von der Schule ins Kloster. Unsere Blicke trafen sich, als ich an ihm vorüberging.
»Marina, wie die Königin der Meere«, hatte er gesagt. Ich fand es seltsam, dass er meinen Namen kannte, wenngleich ich ihn seit dem Tage unserer Ankunft jede Woche in der Kirche traf. »Komm und leiste einem betrunkenen Mann etwas Gesellschaft.«
Das tat ich. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil Héctor etwas überaus Angenehmes an sich hat. In seiner Gegenwart fühle ich mich entspannt. Er gibt nicht vor, jemand anderer zu sein, wie so viele Menschen es tun. Er strahlt diese Haltung aus, die da sagt: »So bin ich. Akzeptiere es oder zieh weiter.«
An jenem Tag hatten wir dagesessen und uns unterhalten. Solange, dass er seine Flasche austrinken und sogar noch eine neue bestellen konnte.
»Du kannst dich auf Héctor Ricardo verlassen«, sagte er, als es Zeit für mich war, zum Konvent zurückzukehren. »Ich passe auf dich auf. Das sagt schon allein mein Name. Der lateinische Ursprung von Hector bedeutet ›verteidigen und festhalten‹. Und Ricardo heißt ›Kraft und Mut‹«, erklärte er und schlug dabei zweimal mit der Faust auf seine Brust. »Héctor
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