Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
der Garden entlarvt hätte – ich habe eine Liste erstellt und sie auf den Felsen gemalt.
Ich berühre das Viereck und denke an die ersten drei Zahlen,die darunter verborgen sind. Mit den Fingerspitzen streiche ich über die getrocknete Farbe und werde traurig bei dem Gedanken, was diese Zeilen einst bedeuteten. Wenn es irgendetwas gibt, das über ihren Tod hinwegtrösten könnte, dann nur die Tatsache, dass sie nun in Frieden ruhen können und keine Angst mehr haben müssen.
Ich wende mich von der verborgenen Liste unter dem Viereck ab, mache die Pinsel sauber und lege alles beiseite.
»Wir sehen uns nächste Woche«, sage ich zu den Gesichtern.
Bevor ich die Höhle verlasse, betrachte ich noch einmal die Landschaft neben dem Durchgang zur Höhle auf der Felswand. Es ist das erste Bild, das ich hier im Alter von ungefähr zwölf Jahren gemalt habe. Obwohl ich es im Laufe der Jahre immer wieder nachgebessert habe, ist es doch weitgehend so geblieben, wie es am Anfang war.
Es ist die Aussicht, die ich aus meinem Schlafzimmerfenster auf Lorien hatte. Ich kann mich noch immer genau an sie erinnern. Sanfte Hügel und grasbewachsene Ebenen, die von hohen Bäumen geschmückt sind. Der breite blaue Fluss, der das Terrain durchschneidet. Ein paar Farbkleckse hier und da stellen die Schimären dar, die das kühle Wasser des Flusses trinken. In der Entfernung, oberhalb der neun Torbögen, die die neun Ältesten des Planeten symbolisieren, steht die Statue von Pittacus Lore. Auf dem Bild ist sie so klein, dass sie kaum zu erkennen ist. Dennoch ist sie kaum zu verwechseln und ragt über allem anderen hervor: ein Leuchtfeuer der Hoffnung.
***
Von der Höhle laufe ich schnell zurück zum Kloster und achte dabei auf alles, was mir ungewöhnlich erscheint. Als ich den Bergpfad verlasse, sinkt die Sonne gerade vollständig hinter denHorizont. Meine Zeit wird knapp. Während ich die schwere Eichentür öffne, erklingen die Glocken zur Begrüßung – jemand Neues ist angekommen.
Auf dem Weg in die Schlafräume mische ich mich unter die anderen. Wir haben hier eine Tradition: Wenn ein neues Mädchen ankommt, stellen wir uns mit auf dem Rücken verschränkten Händen neben unsere Betten, sehen das neue Mädchen an und stellen uns eine nach der anderen vor. Als ich damals hier ankam, habe ich es gehasst, auf dem Präsentierteller zu stehen, wo ich mich doch am liebsten nur irgendwo versteckt hätte.
Neben Schwester Lucia steht ein kleines Mädchen in der Tür. Es hat kastanienbraunes Haar, neugierige braune Augen und zierliche Gesichtszüge, die denen einer Maus ähneln. Es starrt verlegen auf den steinernen Fußboden und verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Seine Finger verhaken sich in den Schlaufen seines grauen Wollkleids, das mit rosafarbenen Blumen verziert ist. Eine kleine rosa Spange steckt in seinem Haar und es trägt schwarze Schuhe mit silbernen Schnallen. Es tut mir leid. Schwester Lucia wartet, bis wir siebenunddreißig Mädchen ein freundliches Gesicht machen, dann beginnt sie zu sprechen.
»Ich möchte euch Ella vorstellen. Sie ist sieben Jahre alt und wird von nun an bei uns bleiben. Ich verlasse mich darauf, dass ihr sie alle willkommen heißt.«
Ein Gerücht sollte sich später verbreiten. Es hieß, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien und sie nun hergekommen war, weil sie keine Verwandten hatte.
Jedes Mal, wenn sich ein Mädchen vorstellt, sieht Ella kurz auf, hält ihren Blick ansonsten jedoch gesenkt. Es ist ganz deutlich, dass sie traurig ist und sich fürchtet, aber ich kann gleich erkennen, dass sie zu den Mädchen gehört, für die sich die Menschenschnell erwärmen können. Sie wird nicht lange hierbleiben müssen.
Wir gehen alle zusammen in die Kirche, damit Schwester Lucia Ella erklären kann, welche Bedeutung sie für das Waisenhaus hat. Als Gabby García, die ganz hinten in der Gruppe steht, lautstark gähnt, drehe ich mich zu ihr um.
Direkt hinter Gabby, eingerahmt von einer der klaren Scheiben im bunten Kirchenfenster an der hinteren Wand, steht draußen ein dunkler Schatten und sieht herein. Ich kann ihn in der hereinbrechenden Dunkelheit gerade noch erkennen. Er hat schwarzes Haar, dichte Augenbrauen und einen dicken Schnurrbart. Seine Augen sind auf mich fokussiert – daran besteht kein Zweifel. Mein Herz bleibt fast stehen. Erschrocken hole ich tief Luft und weiche einen Schritt zurück. Alle Köpfe drehen sich zu mir um.
»Marina, ist alles
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