Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
in Ordnung?«, fragt Schwester Lucia.
»Nichts«, erwidere ich und schüttele den Kopf. »Oh, ich meine, ja, es geht mir gut. Tut mir leid.«
Mein Herz pocht und meine Hände zittern. Ich verschränke sie, damit es niemandem auffällt. Schwester Lucia redet weiter davon, dass wir Ella freundlich willkommen heißen sollen, aber ich bin viel zu abgelenkt, um ihr zuzuhören. Ich drehe mich wieder zum Fenster um. Die Gestalt ist verschwunden.
Schwester Lucia geht schließlich und überlässt die Mädchen sich selbst.
Ich renne quer durch die Kirche und schaue nach draußen. Ich kann niemanden mehr sehen, entdecke jedoch ein paar Stiefelabdrücke im Schnee. Dann wende ich mich wieder vom Fenster ab. Vielleicht war es irgendein potenzieller Adoptivvater, der uns Mädchen aus der Entfernung begutachten wollte. Vielleicht war es auch einer der leiblichen Väter, der gern einen Blick auf seine Tochter werfen wollte, deren Erziehung ihm selbst nichtmöglich ist. Doch aus irgendeinem Grund fühle ich mich nicht mehr sicher. Es gefällt mir überhaupt nicht, wie der Mann mich angesehen hat.
»Alles in Ordnung?«, höre ich jemanden hinter mir sagen. Erschrocken fahre ich herum. Adelina steht mit verschränkten Händen vor mir. Ein Rosenkranz baumelt von ihren Fingern herab.
»Danke. Es geht mir gut«, erwidere ich.
»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Schlimmer als ein Gespenst
, denke ich, spreche es aber nicht aus. Nach der Ohrfeige heute Morgen fürchte ich mich vor ihr.
Ich stecke die Hände in die Taschen. »Jemand stand am Fenster und hat mich beobachtet«, flüstere ich. »Gerade eben.«
Sie kneift die Augen zusammen.
»Sieh nur. Schau dir die Fußabdrücke an.« Ich drehe mich um und zeige nach draußen.
Adelinas Rücken ist starr und durchgedrückt. Für einen Augenblick glaube ich, dass sie tatsächlich alarmiert ist. Doch dann entspannt sie sich und macht ein paar Schritte zum Fenster. Betrachtet die Abdrücke. »Es ist bestimmt nichts«, sagt sie.
»Was meinst du damit? Wie kannst du das sagen?«
»Ich würde mir keine Sorgen machen. Es kann irgendwer gewesen sein.«
»Er hat mich direkt angesehen.«
»Marina, wach auf. Mit dem neuen Mädchen seid ihr hier zusammen achtunddreißig. Wir tun unser Bestes, um euch zu beschützen. Aber wir können nicht verhindern, dass der ein oder andere Junge aus dem Dorf hierherkommt und mal einen Blick riskiert. Obwohl wir schon ein paar von ihnen erwischt haben. Und glaub ja nicht, dass wir nicht wüssten, wie sich ein paar von euch auf dem Weg zur Schule umziehen und dann ziemlich aufreizend aussehen. Sechs von euch werden bald achtzehnund das ganze Städtchen weiß es. Ich würde mir also keine Gedanken um den Mann machen, den du da gesehen hast. Wahrscheinlich war er bloß ein Junge aus der Schule.«
Ich bin ganz sicher, dass es kein Schuljunge war, sage aber nichts.
»Wie dem auch sei, ich möchte mich für heute Morgen bei dir entschuldigen. Es war falsch, dich zu schlagen.«
»Schon in Ordnung«, antworte ich. Eine Sekunde lang überlege ich, noch einmal das Thema John Smith anzusprechen, entscheide mich dann aber dagegen. Das würde nur neue Spannungen verursachen, die ich unbedingt vermeiden will. Mir fehlt unsere frühere Vertrautheit. Schließlich ist es schon so schwer genug, hier zu leben. Da muss Adelina nicht obendrein noch sauer auf mich sein.
Bevor sie noch irgendetwas sagen kann, kommt Schwester Dora angelaufen und flüstert ihr etwas ins Ohr. Adelina sieht mich an, nickt und lächelt. »Wir reden später weiter«, sagt sie.
Sie gehen und lassen mich allein zurück. Ich schaue noch mal zu den Stiefelabdrücken hinüber und ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Die ganze nächste Stunde schleiche ich von Raum zu Raum und schaue auf das in den Schatten liegende Dorf hinunter, doch ich sehe die Gestalt nicht wieder. Vielleicht hat Adelina recht.
Aber wie sehr ich mich auch selbst zu überzeugen versuche, glaube ich nicht, dass es so ist.
7
Im Auto wird es still. Sechs starrt in den Rückspiegel. Blinkende Lichter aus Blau und Rot tanzen über ihr Gesicht.
»Nicht gut«, sagt Sam.
»Scheiße«, sagt Sechs.
Die hellen Lichter und die dröhnende Sirene wecken sogar Bernie Kosar aus dem Halbschlaf und er schielt aus dem Rückfenster.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Sam. Seine Stimme klingt aufgeregt und verängstigt.
Sechs nimmt den Fuß vom Gaspedal und lenkt den Wagen an den Straßenrand. »Vielleicht hat es gar
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