Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
unausgesprochene Bedürfnis, die Geheimnisse der Höhle zu erkunden, und frage mich heute, ob sich gerade deswegen mein Erbe entwickelt hat: die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Ich kann nachts zwar nicht genauso gut wie tagsüber sehen, erkenne jedoch die feinsten Unterschiede in der Dunkelheit, so als wäre sie von Kerzenlicht erhellt.
Auf Knien hockend fege ich gerade soviel Schnee beiseite, dass ich durch den Eingang hindurch und in die Höhle gleiten kann. Ich schiebe meinen Rucksack vor mir her, löse die Decke von meinen Schultern und lasse sie vorsichtig über den Schnee streichen, um die Spuren zu verwischen. Dann hänge ich sie im Innern der Höhle vor den Eingang und halte somit den Wind ab. Auf den ersten drei Metern ist der Höhleneingang sehr eng, dann folgt ein etwas breiterer, steil nach unter führender Durchgang,der gerade groß genug ist, dass man stehen kann. Gleich dahinter öffnet sich die Höhle.
Die Decke ist hoch und das Echo prallt von ihr ab. Die Wände der Höhle gehen nahtlos ineinander über und bilden ein beinahe perfektes Fünfeck. Ein Wasserlauf strömt an der hinteren Ecke durch den Fels. Ich habe keine Ahnung, wo das Wasser herkommt oder hinfließt. Es durchbricht an einer Stelle die Felswand, nur um danach wieder in den Tiefen der Erde zu verschwinden – doch der Strom ist immer gleichmäßig und so verfüge ich unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit über einen Vorrat eiskalten Wassers. Mit dieser stetig fließenden Quelle ist die Höhle der perfekte Ort, um sich zu verstecken. Vor den Mogadori, den Schwestern und den Mädchen – sogar vor Adelina. Außerdem kann ich hier mein Erbe trainieren und verfeinern.
Ich lasse meinen Rucksack neben der Quelle fallen, nehme die Lebensmittel heraus und lege sie auf den Felsvorsprung, wo sich bereits einige Tafeln Schokolade, ein paar Tüten mit Müsli, Haferflocken und Milchpulver, ein Glas Erdnussbutter und verschiedene Konserven mit Obst, Gemüse und Suppe befinden. Genug für ein paar Wochen. Erst nachdem ich alles ordentlich weggelegt habe, stehe ich auf und gestatte mir, die Landschaften und Gesichter zu betrachten, die ich auf die Höhlenwände gemalt habe.
Seit dem ersten Tag, als mir in der Schule ein Pinsel in die Hand gedrückt wurde, liebe ich das Malen. Es erlaubt mir, die Dinge so zu sehen, wie ich sie gern sehen möchte, und nicht unbedingt so, wie sie tatsächlich sind. Malen ist eine Flucht, eine Möglichkeit, Gedanken und Erinnerungen zu bewahren, ein Weg, Hoffnungen und Träume hervorzubringen.
Ich reinige den Pinsel, reibe die Borsten aneinander, bis sie wieder weich und geschmeidig werden, und vermische dann Wasser und Sedimente aus dem kleinen Bachbett. Die dabeientstehenden erdigen Farbtöne passen zu den grauen Höhlenwänden. Dann gehe ich zu dem halbfertigen Gesicht von John Smith, das mich mit seinem unsicheren Lächeln begrüßt.
Ich verwende viel Zeit auf seine dunkelblauen Augen und versuche, den Farbton zu treffen. Es gibt da ein gewisses Funkeln, das nur schwer zu erfassen ist. Als ich müde werde, beginne ich ein neues Bild: das schwarzhaarige Mädchen, das mir im Traum erschienen ist. Anders als Johns Augen gelingen mir seine sofort. Die grauen Wände geben den magischen Ausdruck in ihnen perfekt wieder. Wenn ich eine Kerze vor das Bild hielte, so überlege ich, würde sich die Farbe ganz leicht verändern – so wie sich abhängig von seiner Stimmung und dem vorherrschenden Licht auch der Ausdruck in den echten Augen des Mädchens verändern würde. Es ist bloß so ein Gefühl, das mich da gerade überkommt. Die anderen Gesichter, die ich gemalt habe, sind die von Héctor, Adelina und ein paar der Händler, die ich jeden Tag auf der Straße sehe. Da die Höhle so dunkel und tief ist, glaube ich, dass meine Bilder vor allen anderen Augen verborgen bleiben. Ich weiß zwar, dass noch immer ein gewisses Risiko besteht, aber ich muss diese Bilder einfach malen.
Nach einer Weile schiebe ich die Decke am Höhleneingang beiseite und strecke meinen Kopf hinaus. Ich sehe nur Schneeverwehungen sowie die Sonne, die gerade den Horizont erreicht. Es ist an der Zeit, aufzubrechen. Ich habe nicht annähernd so viel oder so lange gemalt, wie ich vorhatte. Bevor ich die Pinsel reinige, stelle ich mich vor die Wand, die Johns Gesicht gegenüberliegt, und betrachte das große rote Viereck, das ich dort gemalt habe. Bevor dort ein Viereck zu sehen war, habe ich etwas Dummes getan, was mich mit Sicherheit als einen
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