Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
Stein errichtet, und es gibt viele Häuser, die direkt in die Felsen hineingebaut wurden. Wenn man über die Hauptstraße des Dorfs läuft, die Calle Principal, ist es kaum möglich, den Verfall zu ignorieren. Als hätte die Zeit diesen Ort vergessen; als hätten die vergangenen Jahrhunderte nur moosgrüne und braune Schattierungen hinterlassen,während ein durchdringender Geruch von Moder in der Luft hängt.
Bereits vor fünf Jahren habe ich Adelina zum ersten Mal angefleht, diesen Ort zu verlassen und weiterzuziehen, so wie man es uns gesagt hatte. »Ich werde bald mein Erbe empfangen, und das möchte ich nicht hier unter all diesen Mädchen und Nonnen erleben«, hatte ich gesagt. Sie hatte abgelehnt und aus der Reina-Valera, einer spanischen Bibelübersetzung aus dem Jahre 1569, zitiert, dass wir uns ruhig verhalten müssten, um Erlösung zu erlangen.
Seitdem bettele ich jedes Jahr aufs Neue, und jedes Jahr sieht sie mich mit leeren Augen an und wehrt mich mit einer neuen Bibelstelle ab. Doch ich weiß, dass meine Rettung hier nicht zu finden ist.
Hinter den Kirchenpforten und unterhalb des sanft abfallenden Hügels kann ich die schwachen Lichter des Dorfs erahnen. Inmitten dieses Schneesturms sehen sie aus wie ineinanderfließende Halluzinationen. Obwohl ich die Musik aus den beiden Cantinas nicht hören kann, bin ich sicher, dass sie voller Menschen sind. Abgesehen von ihnen gibt es noch ein Restaurant, ein Café, einen Markt, eine Bodega sowie einige Händler, die ihre Waren an den meisten Morgen und Nachmittagen auf der Calle Principal anbieten. Am Fuße des Hügels, am südlichen Ende des Dorfs, befindet sich die Backsteinschule, die wir alle besuchen.
Mein Kopf fährt herum, als die Glocke läutet: In fünf Minuten wird das Abendgebet gesprochen, danach geht es direkt ins Bett. Panik überkommt mich. Ich muss wissen, ob es neue Nachrichten gibt. Vielleicht ist John gefasst worden. Vielleicht hat die Polizei etwas anderes gefunden, was für die Zerstörung der Schule verantwortlich war, etwas, das bisher übersehen wurde. Auch wenn es nichts Neues gibt, muss ich es wissen. Sonst finde ich keinen Schlaf.
Ich richte meinen starren Blick auf Gabriela García genannt Gabby, die an einem der Computer sitzt. Gabby ist sechzehn und sehr hübsch, mit langem dunklen Haar und braunen Augen. Wann immer sie sich außerhalb des Klosters befindet, trägt sie extrem knappe Blusen, die ihren gepiercten Bauchnabel zeigen. Jeden Morgen zieht sie sich etwas Weites und Luftiges an, doch sobald wir außer Sichtweite der Schwestern sind, zieht sie die Sachen wieder aus und enthüllt ein eng sitzendes, knappes Outfit darunter. Auf dem Schulweg trägt sie dann immer Make-up auf und richtet ihr Haar. Und wenn der Tag zu Ende geht, wischt sie sich auf dem Heimweg die Schminke vom Gesicht und schlüpft wieder in ihre ursprünglichen Klamotten.
Dasselbe gilt für ihre vier Freundinnen, von denen drei ebenfalls hier leben.
»Was?«, fragt Gabby in pampigem Tonfall und glotzt zurück. »Ich schreibe eine E-Mail.«
»Ich warte schon länger als zehn Minuten«, erwidere ich. »Außerdem schreibt du keine E-Mail. Du siehst dir halbnackte Jungs an.«
»Na und? Willst du mich etwa verpetzen, du kleine Tratschtante?«, fragt sie spöttisch, so als spreche sie mit einem Kind.
Das Mädchen neben ihr, das Hilda heißt, doch von den meisten in der Schule nur La Gorda – ›die Dicke‹ – genannt wird, fängt an zu lachen.
Gabby und La Gorda sind ein unzertrennliches Paar. Ich beiße mir auf die Zunge, drehe mich wieder zum Fenster und verschränke die Arme. Innerlich schäume ich, weil ich erstens an diesen Computer muss und zweitens nie weiß, was ich Gabbys Spötteleien entgegensetzen soll. Es sind noch vier Minuten übrig. Meine Ungeduld geht in pure Verzweiflung über. Jetzt gerade könnte es Neuigkeiten geben – eine Eilmeldung! –, aberich werde es nicht erfahren, weil diese egoistischen Ziegen keinen der Computer freigeben.
Noch drei Minuten. Ich zittere vor Wut. Doch dann kommt mir eine Idee. Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Es ist eine riskante Idee, die sich aber lohnt, wenn sie klappt.
Ich drehe mich so weit herum, dass ich Gabbys Stuhl im Augenwinkel habe. Ich hole tief Luft, konzentriere all meine Energie auf ihren Stuhl und benutze Telekinese, um ihn ein Stück nach links zu rücken. Dann stoße ich ihn ganz schnell nach rechts, sodass er beinahe umfällt. Gabby springt auf und kreischt. Scheinbar
Weitere Kostenlose Bücher