Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
überrascht sehe ich zu ihr.
»Was ist los?«, fragt La Gorda.
»Ich weiß nicht. Es hat sich angefühlt, als hätte jemand an meinem Stuhl gerückt. Hast du auch was gemerkt?«
»Nein«, antwortet La Gorda. Kaum hat sie das Wort ausgesprochen, bewege ich ihren Stuhl ein paar Zentimeter rückwärts und stoße ihn dann hart nach rechts, wobei ich die ganze Zeit meinen Platz am Fenster nicht verlasse.
Diesmal schreien beide Mädchen auf. Ich schiebe Gabbys Stuhl umher, dann noch mal den von La Gorda. Ohne einen weiteren Blick auf den Bildschirm zu werfen, flüchten die Mädchen schreiend aus dem Raum.
»Ja!«, rufe ich triumphierend, haste an den Computer, den Gabby benutzt hat, und gebe die Web-Adresse des Nachrichtensenders ein, der mir am vertrauenswürdigsten erscheint. Ungeduldig warte ich, bis sich die Seite hochlädt. Das langsame Internet in Kombination mit den alten Computern ist der Fluch meines hiesigen Daseins.
Der Browser arbeitet. Zeile für Zeile formt sich die Seite. Als ein Viertel davon geladen ist, läutet die letzte Glocke. Noch eine Minute bis zur Andacht. Ich spiele mit dem Gedanken, die Glocke zu ignorieren, selbst auf die Gefahr einer möglichenBestrafung hin. In diesem Moment ist es mir egal. »Noch fünf Monate«, sage ich flüsternd zu mir selbst.
Die halbe Seite ist jetzt hochgeladen und zeigt die obere Hälfte von Johns Gesicht. Er sieht nach oben. Seine dunklen Augen wirken selbstsicher, auch wenn ihr Ausdruck ein Unbehagen verrät, das fast unwirklich scheint. Ich hocke auf der Kante meines Stuhls und warte. Die in mir aufkommende Erregung lässt meine Hände zittern.
»Nun mach schon«, versuche ich vergeblich, den Bildschirm anzutreiben. »Mach schon, mach schon, mach schon.«
»Marina!«, bellt plötzlich eine Stimme von der Tür her. Ich wirbele herum und entdecke Schwester Dora, eine beleibte Frau, die als Küchenchefin arbeitet. Sie sieht mich vorwurfsvoll an. Das ist nichts Ungewöhnliches. Jedes einzelne Mädchen, das mit seinem Tablett an der Essensausgabe wartet, wird von ihr normalerweise so vorwurfsvoll angestarrt, als wäre die Notwendigkeit unserer Versorgung eine persönliche Beleidigung für sie. Sie presst ihre Lippen zu einem perfekten Strich aufeinander und kneift die Augen zusammen. »Komm! Sofort! Und ich meine
jetzt
sofort!«
Ich seufze und weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als zu gehorchen. Also lösche ich die Chronik des Browsers und schließe ihn, dann folge ich Schwester Dora durch den dunklen Gang.
Es gab irgendwelche News; ich weiß es ganz einfach. Warum sonst hätte Johns Gesicht die komplette Seite einnehmen sollen? Nach anderthalb Wochen sind alle Nachrichten alt und abgestanden. Es muss also eine entscheidende Neuigkeit aufgetreten sein, wenn ihm so viel Platz auf dem Bildschirm eingeräumt wird.
Wir gehen zur Klosterkirche. Sie ist riesig. Ihre Stützpfeiler führen zu einer hohen, gewölbten Decke, bunte Glasfensterzieren die Wände. Hölzerne Kirchenbänke nehmen den ganzen Raum ein. Bis zu dreihundert Menschen können hier sitzen. Schwester Dora und ich betreten die Kirche als Letzte. Ich setze mich allein in eine der mittleren Bankreihen.
Schwester Lucia, die Adelina und mir einst die Tür öffnete und das Kloster noch immer leitet, steht auf der Kanzel. Sie schließt die Augen, neigt den Kopf und hält ihre gefalteten Hände vor den Brustkorb. Alle anderen folgen ihrem Beispiel.
»Padro divino«, beginnt das Gebet der murmelnden Stimmen. »Que nos bendiga y nos proteja en su amor …«
Ich blende sie aus und schaue auf die Hinterköpfe in der Reihe vor mir, die alle in Andacht geneigt sind. Oder einfach nur geneigt. Ich entdecke Adelina, die sich etwas rechts von mir sechs Reihen weiter vorn in der ersten Bankreihe befindet. In tiefer Meditation versunken kniet sie. Ihr braunes, zu einem dichten Zopf geflochtenes Haar fällt ihr auf den Rücken. Nicht ein einziges Mal sieht sie auf, unternimmt keinen Versuch, mich weiter hinten im Raum ausfindig zu machen, so wie sie es in den ersten Jahren hier immer getan hat. Damals, als sich angesichts unseres Geheimnisses jedes Mal ein Lächeln auf unsere Lippen schlich, wenn sich unsere Blicke trafen. Noch immer teilen wir dieses Geheimnis, doch irgendwann auf dem Weg hat Adelina aufgehört, an es zu glauben. Irgendwo unterwegs ist unser Plan, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, bis wir uns stark und sicher genug fühlen würden, das Kloster zu verlassen, von Adelinas Wunsch
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