Die Macht des Geistes
fragte nach dem Zweck seines Besuchs, aber die vielen Augen, die ihn beobachteten, enthielten genügend Fragen.
»Ich heiße Wu Hsi«, sagte der Mann. »Ich habe eine Botschaft zu überbringen, die sich vielleicht auch für euch als nützlich erweisen kann.«
»Was unsere armselige Gastfreundschaft zu bieten hat, steht zu deiner Verfügung, Herr«, antwortete Wang Kao. »Komm in mein Haus, denn es muß bitter kalt für dich sein.«
»Keineswegs«, meinte der Fremde lächelnd. »Das ist schon ein Teil meiner Botschaft. Die Menschen brauchen nicht zu frieren, selbst wenn sie keine warme Kleidung tragen. Sie müssen nur wissen, wie man nicht friert.«
Er beugte sich im Sattel nach vorn. Ein eisiger Windstoß zerzauste seinen spärlichen grauen Bart. »Ich bin nur einer von vielen«, fuhr er dann fort. »Mein Meister hat uns alles gelehrt, damit wir durch das Land ziehen und die Botschaft verkünden. Wir hoffen, daß einige unserer Schüler eines Tages ebenfalls Propheten werden.«
»Und was lehrst du, Herr?« erkundigte Wang Kao sich vorsichtig.
»Den richtigen Gebrauch des menschlichen Geistes«, erwiderte Wu Hsi. »Mein Meister war ein Gelehrter in Fenchow, und als die große Veränderung kam, erkannte er, daß es sich dabei um eine Veränderung der menschlichen Denkweise handelte, und begann mit der Suche nach der besten Methode, diese neue Fähigkeit auszunützen. Wir haben erst einen bescheidenen Anfang gemacht, aber trotzdem glauben wir, daß wir damit der Welt einen Dienst erweisen können.«
»Wir denken jetzt alle besser und rascher, Herr«, sagte Wang Kao.
»Richtig, ich befinde mich offenbar bei redlichen und würdigen Menschen, aber vielleicht bringen euch meine bescheidenen Worte doch etwas Neues. Denkt nur daran, Leute, wie oft der Verstand, der reine Wille, über körperliche Schwächen triumphiert hat. Denkt daran, wie Menschen alle möglichen Krankheiten, Hungersnöte und Leiden überlebt haben, an denen jedes Tier zugrunde gegangen wäre. Überlegt euch aber auch, um wie vieles größer diese Fähigkeit jetzt sein müßte, wenn der Mensch sie nur nach Belieben einsetzen könnte.«
»Ja, Herr.« Wang Kao verbeugte sich. »Wir sehen, daß du über die Kälte des Winters gesiegt hast.«
»Heute ist es nicht so kalt, daß ein Mensch erfrieren müßte, wenn er nur weiß, wie er sein Blut in Bewegung halten kann, damit sein Körper warm bleibt. Das ist eigentlich nur eine Kleinigkeit.« Wu Hsi zuckte mit den Schultern. »Ein ausgebildeter Verstand kontrolliert alle Körperfunktionen; ich könnte euch zum Beispiel zeigen, wie man einer Wunde befiehlt, nicht mehr zu schmerzen und nicht mehr zu bluten. Aber die verschiedenen Möglichkeiten einer Verständigung und Freundschaft mit Tieren; die Befähigung, alles ins Gedächtnis zurückzurufen, was man jemals gesehen oder gehört hat; die Möglichkeit, nur solche Wünsche und Gefühle zu haben, die wirklich gut sind; die Fähigkeit, mit der Seele eines anderen Menschen zu sprechen, ohne auch nur die Lippen zu öffnen; die Gabe, den wirklichen Zustand der Welt zu erkennen, ohne sich in bloße Phantasien zu verlieren – das alles könnte sich meiner bescheidenen Meinung nach für euch auf die Dauer als nützlicher erweisen.«
»In der Tat, ehrenwerter Herr, aber wir sind dessen nicht würdig«, erklärte Wang Kao. »Willst du jetzt nicht unsere bescheidene Gastfreundschaft annehmen?«
Es war ein großer Tag für das ganze Dorf, obwohl diese frohe Botschaft so ruhig und unauffällig gekommen war. Wang Kao überlegte sich, daß dieser große Tag bald für die ganze übrige Welt kommen würde. Er fragte sich, wie die Erde in zehn Jahren von heute aussehen würde, und selbst seine geduldige Seele konnte die Zukunft kaum noch erwarten.
14. Kapitel
In diesem Jahr fiel der erste Schnee früher als gewöhnlich. Als Brock eines Morgens aus dem Haus kam, war alles weiß. Er blieb einen Augenblick lang stehen und sah über die Felder, Hügel und Wälder, die sich bis zu dem stahlgrauen Horizont erstreckten. Es war, als habe er den Winter noch nie zuvor bewußt erlebt – die kahlen schwarzen Bäume vor dem bleifarbenen Himmel, die niedrigen Dächer, an denen sich bereits die ersten Eiszapfen bildeten, die Fenster mit den großen Eisblumen und die einzelne Krähe, die unbeweglich auf einem Telefonmast saß.
Seitdem es zu schneien begonnen hatte, war die Luft etwas wärmer geworden, aber Brock spürte sie trotzdem schneidend kalt in dem ungeschützten Gesicht.
Weitere Kostenlose Bücher