Die Macht des Lichts
Trotzdem konnte sie ihre Gänsehaut nicht ungeschehen machen.
Die Prozession war zu weit weg, um viele Einzelheiten erkennen zu können. Sie setzte sich aus Männern und Frauen zusammen, die glühende Kleider trugen, die so flossen und wallten wie die Banner in der Stadt. Die Erscheinungen wiesen keine Farbe auf und waren einfach nur bleich, ganz im Gegensatz zu den meisten der Geister, die in letzter Zeit erschienen waren.
Die hier bestanden nur aus dem seltsamen, jenseitigen Licht. Mehrere Gestalten in der Gruppe - die mittlerweile aus ungefähr zweihundert Personen bestand - trugen ein großes Objekt. Eine Art Sänfte? Oder … nein. Es war ein Sarg. Handelte es sich also um eine Begräbnisprozession aus der Vergangenheit? Was war mit diesen Menschen geschehen, und was hatte sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt?
Gerüchte in der Stadt besagten, dass die Prozession das erste Mal in der Nacht nach Rands Ankunft in Bandar Eban erschienen war. Das hatten die Mauerwächter, die es am besten wissen mussten, Nynaeve unbehaglich bestätigt.
»Ich weiß wirklich nicht, warum man darum so viel Aufhebens macht«, sagte Merise mit ihrem tarabonischen Akzent und verschränkte die Arme. »Geister - daran sind wir doch alle mittlerweile gewöhnt, oder nicht? Wenigstens lassen die hier keine Menschen schmelzen oder in Flammen ausbrechen.«
Berichte hatten darauf hingewiesen, dass die »Zwischenfälle« immer häufiger vorkamen. Allein in den letzten paar Tagen war Nynaeve drei glaubwürdigen Berichten über Leute nachgegangen, aus deren Haut sich Insekten den Weg frei gegraben hatten, um sie auf diese Weise zu töten. Dann war da noch der Mann gewesen, den man morgens in ein Stück Holzkohle verwandelt in seinem Bett gefunden hatte. Die Laken waren nicht einmal angesengt gewesen. Sie hatte die Leiche selbst gesehen.
Diese Zwischenfälle wurden nicht von den Geistern verursacht, aber man hatte angefangen, die Erscheinungen dafür verantwortlich zu machen. Was vermutlich immer noch besser war, als es Rand anzulasten.
»Dieses Warten in der Stadt ist nervenaufreibend«, fuhr Merise fort.
»Unser Aufenthalt in dieser Stadt scheint keine Ergebnisse zu bringen«, stimmte Corele ihr zu. »Wir sollten weiterreisen. Ihr habt gehört, dass er verkündet, dass die Letzte Schlacht bald beginnt.«
Nynaeve verspürte einen Stich der Sorge für Lan, dann Zorn auf Rand. Er glaubte noch immer, seine Feinde verwirren zu können, wenn er zu der gleichen Zeit angriff, in der Lan seinen Angriff auf den Tarwin-Pass durchführte. Lans Angriff konnte sehr wohl der Beginn der Letzten Schlacht sein. Warum wollte Rand dann keine Truppen abkommandieren, um ihm zu helfen?
»Ja«, sagte Cadsuane nachdenklich, »möglicherweise hat er da recht.« Warum hatte sie immer die Kapuze hochgeschlagen? Rand war offensichtlich nicht in der Nähe.
»Dann haben wir alle einen noch wichtigeren Grund, um weiterzureisen«, sagte Merise streng. »Rand al’Thor ist ein Narr! Und Arad Doman ist irrelevant. Ob König oder nicht, was spielt das für eine Rolle?«
Nynaeve schnaubte. »Die Seanchaner sind nicht irrelevant. Sollen wir zur Großen Fäule marschieren und unsere Königreiche allen Eroberern öffnen?«
Merise reagierte nicht. Corele lächelte und zuckte mit den Schultern, dann warf sie einen Blick zu Damer Flinn, der mit verschränkten Armen an der Mauer lehnte. Die lässige Haltung des älteren Mannes verriet, dass für ihn eine Geisterprozession nichts Ungewöhnliches darstellte. Und in diesen Zeiten mochte er da durchaus recht haben.
Nynaeve schaute wieder zu der Prozession, die die Stadtmauer umrundete. Die anderen Aes Sedai führten ihre Unterhaltung fort, Merise und Corele nutzten die Gelegenheit, ihr Missfallen über Rand auf unterschiedliche Weise kundzutun - die eine mürrisch, die andere freundlich.
Das entfachte in Nynaeve den Wunsch, ihn zu verteidigen. Auch wenn er in letzter Zeit schwierig und unberechenbar gewesen war, hatte er in Arad Doman wichtige Arbeit zu erledigen. Das Treffen mit den Seanchanern in Falme stand unmittelbar bevor. Davon abgesehen hatte er allen Grund, sich Sorgen um die Besetzung des domanischen Throns zu machen. Und was war, wenn sich Graendal tatsächlich hier aufhielt, wie er anzunehmen schien? Die anderen glaubten, er würde sich da irren, aber er hatte in beinahe jedem anderen Königreich Verlorene aufgespürt. Warum nicht auch in Arad Doman? Ein verschwundener König, ein Land, in dem es vor Chaos, Dürre
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