Die Macht des Zweifels
Finger krümmt, spürt er einen Rià in dem Lederbezug des Tisches. Drinnen ist Schaumstoff, eine Wolke, die man zerreiÃen kann.
»Nathaniel«, sagt Dr. Ortiz, »bist du so lieb und versuchst, etwas zu sagen?«
Seine Mutter und sein Vater blicken ihn gespannt an. Nathaniel spitzt die Lippen. Er spürt, wie sich seine Kehle öffnet wie eine Blüte. Ein Klang steigt aus seinem Bauch auf, holpert über die Steine, die ihn ersticken. Nichts dringt bis zu seinen Lippen.
Dr. Ortiz beugt sich näher zu ihm. »Du kannst das, Nathaniel«, drängt sie. »Versuch es einfach.«
Aber er versucht es ja schon. Er versucht es so angestrengt, daà es ihn fast zerreiÃt. Da ist ein Wort, das wie Treibholz hinter seiner Zunge feststeckt, und er möchte es so gern zu seinen Eltern sagen: Aufhören .
»Auf dem Ultraschall ist nichts Ungewöhnliches zu sehen«, sagt Dr. Ortiz. »Keine Polypen, keine Schwellung der Stimmbänder, nichts Physisches, das Nathaniel am Sprechen hindern könnte.« Sie richtet ihre hellen grauen Augen auf uns. »Hatte Nathaniel in letzter Zeit irgendwelche anderen gesundheitlichen Probleme?«
Caleb blickt mich an, und ich wende mich ab. Ja, ich hab Nathaniel Aspirin gegeben, ja, ich hab insgeheim gebetet, daà er zur Schule kann, weil ich so einen vollen Terminkalender hatte. Na und? Frag neun von zehn Müttern. Sie alle hätten das gleiche getan wie ich.
»Er ist gestern mit Bauchschmerzen aus der Kirche nach Hause gekommen«, sagt Caleb. »Und nachts passieren ihm noch immer MiÃgeschicke.«
Aber das ist kein medizinisches Problem. Da geht es um Monster, die sich unter dem Bett verstecken, böse Männer, die durchs Fenster spähen. Das hat nichts mit einem plötzlichen Sprachverlust zu tun. Ich merke, daà Nathaniel sich in der Ecke, wo er mit Bauklötzen spielt, schämt â und auf einmal bin ich wütend auf Caleb, weil er das überhaupt zur Sprache gebracht hat.
Dr. Ortiz nimmt ihre Brille ab. »Es kommt vor, daà eine vermeintlich körperliche Erkrankung gar keine ist«, sagt sie bedächtig. »Manchmal geht es dabei nur darum, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.«
Sie kennt meinen Sohn nicht. Und auÃerdem wäre ein Fünfjähriger überhaupt nicht fähig zu solchen durchtriebenen Spielchen.
»Dabei handelt es sich nicht um ein bewuÃt eingesetztes Verhalten«, redet die Ãrztin weiter, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
»Was können wir tun?« fragt Caleb im selben Moment, als ich sage: »Vielleicht sollten wir einen Spezialisten aufsuchen.«
Die Ãrztin antwortet zunächst mir. »Genau das wollte ich gerade vorschlagen. Ich könnte Dr. Robichaud anrufen und fragen, ob sie heute nachmittag einen Termin für Sie frei hat.«
Ja, genau das brauchen wir. Eine HNO-Ãrztin, eine Expertin für solche Krankheiten. Eine HNO-Ãrztin, die in der Lage ist, Nathaniel die Hände aufzulegen und ein unwahrscheinlich kleines Etwas zu spüren, das wieder in Ordnung gebracht werden kann. »Wo hat Dr. Robichaud ihre Praxis?« frage ich.
»In Portland«, sagt die Kinderärztin. »Sie ist Psychiaterin.«
Juli. Das städtische Schwimmbad. 39 Grad in Maine. Rekordhitze.
»Und wenn ich untergehe?« fragte Nathaniel mich. Ich stand im flachen Teil des Beckens und sah, wie er das Wasser anstarrte, als wäre es Treibsand.
»Meinst du wirklich, ich würde zulassen, daà dir was passiert?«
Er schien darüber nachzudenken. »Nein.«
»Na dann los.« Ich streckte ihm die Arme entgegen.
»Mom? Und wenn das ein Lavasee ist?«
»Dann würde ich wohl kaum einen Badeanzug tragen.«
»Und wenn ich reinspringe und meine Arme und Beine vergessen, was sie machen sollen?«
»Tun sie schon nicht.«
»Könnte doch sein.«
»Unwahrscheinlich.«
»Einmal ist schon genug«, sagte Nathaniel ernst, und mir wurde klar, daà er zugehört hatte, wenn ich unter der Dusche meine SchluÃplädoyers übte.
Eine Idee. Ich rià den Mund auf, hob die Arme und lieà mich auf den Grund des Beckens sinken. Das Wasser rauschte mir in den Ohren, die Welt verlangsamte sich. Ich zählte bis fünf, und dann kräuselte sich das Blau, zerplatzte genau vor mir. Plötzlich war Nathaniel unter Wasser und schwamm, die Augen voller Sterne, und aus Mund und Nase blubberten
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