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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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schon tausendmal gesehen. Ich war in den Behandlungsräumen von hundert Psychiatern. Ich habe in der Ecke gesessen wie die Fliege an der Wand, während ein Kind zeigt, was es nicht erzählen kann, während ein Kind mir die Beweise liefert, die ich brauche, um eine Anklage zu erheben.
    Plötzlich finde ich mich auf dem Boden neben Nathaniel wieder, meine Hände liegen auf seinen Schultern, meine Augen blicken in seine. Einen Moment später wirft er sich in meine Arme. Wir wiegen uns vor und zurück, wie in einem luftleeren Raum, und keiner von uns findet Worte, um die Wahrheit beim Namen zu nennen.

Am Spielplatz der Schule vorbei, in dem Wald auf der anderen Seite des Hügels – da wohnt die Hexe.
    Wir alle wissen, daß es sie gibt. Wir glauben an sie. Wir haben sie noch nie gesehen, aber das ist auch gut so, weil alle, die sie sehen, geholt werden.
    Ashleigh sagt, das Gefühl, wenn der Wind einem in den Nacken kriecht und man immerzu zittern muß, das bedeutet, daß die Hexe einem ganz nahe gekommen ist. Sie trägt eine Flanelljacke, die sie unsichtbar macht. Sie hört sich an wie fallende Blätter.
    Willie war in unserer Klasse. Er hatte Augen, die ihm so tief in den Kopf gesunken waren, daß sie manchmal verschwanden, und er hat nach Apfelsinen gerochen. Er durfte seine Sandalen auch noch tragen, als es draußen schon richtig kalt geworden war, und seine Füße wurden ganz schmutzig und blau, und meine Mutter hat immer den Kopf geschüttelt und gesagt: »Siehst du?«, und ich hab’s gesehen, und ich hab mir gewünscht, ich dürfte das auch. Aber die Sache war die, an einem Tag hat Willie in der Pause noch neben mir gesessen und seine Zwiebäcke in seine Milch getunkt, bis sie nur noch ein matschiger Haufen waren … und am nächsten Tag war er weg. Er war weg, und ist nie wiedergekommen.
    In dem Versteck unter der Rutsche erzählt Ashleigh uns, daß die Hexe Willie geholt hat. »Sie sagt deinen Namen, und von da an kannst du nichts mehr machen, dann tust du einfach alles, was sie sagt. Und du gehst auch überall hin, wo sie will.«
    Lettie fängt an zu weinen. »Sie wird ihn auffressen. Sie wird Willie auffressen.«
    Â»Zu spät«, sagt Ashleigh, und in der Hand hält sie einen ganz weißen Knochen.
    Der sieht so klein aus, daß er eigentlich nicht von Willie sein kann. Der sieht so klein aus, daß er eigentlich von keinem Wesen sein kann, das schon mal gelaufen ist. Aber ich weiß besser als alle anderen, was es ist: Ich hab ihn gefunden, als ich unter dem Löwenzahn am Zaun ein Loch gegraben hab. Ashleigh hat ihn von mir.
    Â»Jetzt hat sie Danny«, sagt Ashleigh.
    Miss Lydia hat uns erzählt, daß Danny krank ist. Wir haben sein Gesicht auf dem Wer-ist-da-Brett auf die traurige Seite gedreht. Nach der Ruhezeit sollte jeder von uns ihm eine Karte basteln. »Danny ist krank«, sage ich zu Ashleigh, aber sie sieht mich nur an, als wäre ich der dümmste Mensch auf der ganzen Welt. »Hast du gedacht, die würden uns die Wahrheit sagen?« fragt sie.
    Und als Miss Lydia gerade nicht hinguckt, kriechen wir unter dem Zaun durch, an der Stelle, wo manchmal Hunde und Kaninchen reinkommen – Ashleigh und Peter und Brianna und ich, die Tapfersten eben. Wir werden Danny retten. Wir werden ihn zurückholen, bevor die Hexe ihm etwas tun kann.
    Aber Miss Lydia findet uns vorher. Sie schickt uns in die Klasse, und während der Pause müssen wir sitzen bleiben, und sie sagt, wir dürften niemals den Spielplatz verlassen. Ob wir denn nicht wüßten, daß uns etwas zustoßen könnte?
    Brianna sieht mich an. Klar wissen wir das. Deshalb wollten wir ja weg.
    Peter fängt an zu weinen und erzählt ihr alles über die Hexe, und was Ashleigh gesagt hat. Miss Lydias Augenbrauen ziehen sich zusammen, wie eine dicke, schwarze Raupe. »Stimmt das?«
    Â»Peter ist ein Lügner. Das hat er alles bloß erfunden«, sagt Ashleigh, und sie blinzelt nicht mal dabei.
    Deshalb weiß ich, daß die Hexe sie schon erwischt hat.

2
    Falls Ihnen das je widerfahren sollte, werden Sie nicht vorbereitet sein. Sie werden eine Straße hinuntergehen und sich fragen, wie die Leute so tun können, als wäre die ganze Welt nicht gerade aus ihrer Bahn geworfen worden. Sie werden sich das Hirn zermartern, nach irgendwelchen Anzeichen und Signalen suchen, überzeugt, daß es einen Moment gegeben

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