Die Macht des Zweifels
hat, der Ihnen die Augen hätte öffnen müssen. Sie werden so fest mit der Faust gegen die Kabinentür auf der Damentoilette schlagen, daà Sie einen Bluterguà am Handgelenk kriegen. Sie werden in Tränen ausbrechen, wenn der Zeitungsverkäufer Ihnen einen schönen Tag wünscht. Sie werden sich fragen, Wie war das möglich . Sie werden sich fragen, Was wenn .
Als Caleb und ich nach Hause fahren, sitzt ein Elefant zwischen uns, ein gewaltiger Berg, der uns trennt, unmöglich zu ignorieren, und doch tun wir beide so, als könnten wir ihn nicht sehen. Nathaniel schläft auf der Rückbank, in der Hand einen Lutscher, den Dr. Robichaud ihm geschenkt hat.
Ich bekomme kaum Luft. »Er muà uns sagen, wer«, bricht es schlieÃlich aus mir heraus. »Er muà einfach.«
»Er kann nicht.«
Genau darum geht es. Nathaniel kann nicht sprechen, selbst wenn er will. Er hat noch nicht lesen oder schreiben gelernt. Solange er sich nicht verständlich machen kann, gibt es niemanden, der verantwortlich gemacht werden könnte. Solange er sich nicht verständlich machen kann, ist das hier noch kein Fall.
»Vielleicht irrt sich die Psychiaterin ja«, sagt Caleb.
Ich sehe Caleb an. »Glaubst du Nathaniel nicht?«
»Ich weià nur, daà er bisher noch nichts gesagt hat.« Er blickt in den Rückspiegel. »Ich will jetzt nicht drüber reden, wenn er dabei ist.«
»Meinst du, davon geht es weg?«
Caleb schweigt. »Die nächste Abfahrt müssen wir raus«, sage ich kühl, weil Caleb weiter auf der linken Spur bleibt.
»Ich weiÃ, wie ich fahren muÃ, Nina.« Er wechselt auf die rechte Spur, setzt den Blinker. Doch einige Augenblicke später fährt er an der Ausfahrt vorbei.
»Du bist â« Der Vorwurf erstirbt, als ich sein Gesicht sehe, von Kummer gezeichnet. Ich glaube, er weià nicht einmal, daà er weint. »Oh, Caleb.« Ich will den Arm ausstrecken und ihn berühren, doch dieser verdammte Elefant ist im Weg. Caleb hält plötzlich an, steigt aus und geht am StraÃenrand auf und ab, nimmt tiefe Atemzüge, so daà seine Brust sich heftig hebt und senkt.
Einen Moment später kommt er zurück. »Ich wende einfach und fahr zurück«, sagt er â zu wem? Mir? Nathaniel? Sich selbst?
Ich nicke. Und denke, Wenn es nur so einfach wäre .
Nathaniel beiÃt die Backenzähne fest aufeinander, so daà das Summen der StraÃe einfach durch ihn hindurchgeht. Er schläft nicht, aber er tut so als ob. Seine Eltern sprechen miteinander, die Worte so leise geflüstert, daà er sie nicht ganz versteht. Vielleicht wird er nie wieder schlafen. Vielleicht wird er wie ein Delphin und bleibt immer halbwach.
Miss Lydia hat ihnen das mit den Delphinen letztes Jahr erzählt, nachdem sie das Klassenzimmer in einen Ozean aus blauem Kreppapier mit Seesternen aus Glitzerpapier verwandelt hatten. Deshalb weià Nathaniel, daà Delphine ein Auge zumachen und die Hälfte von ihrem Gehirn abschalten und auf einer Seite schlafen, während die andere Seite nach Gefahren Ausschau hält. Er weiÃ, daà Delphinmamas für ihre Babys schwimmen, wenn die sich ausruhen, sie einfach in der Unterwasserströmung mitziehen, als wären sie durch unsichtbare Fäden verbunden. Er weiÃ, daà Delphine sich an den Plastikringen, mit denen die Cola-Sechserpackungen zusammengehalten werden, verletzen können, bis sie entkräftet ans Ufer gespült werden. Und daà sie, obwohl sie Luft atmen, dort sterben.
Nathaniel weià auch, daà er, wenn er könnte, das Fenster herunterlassen und ganz weit hinausspringen würde, über die Leitplanke und den hohen Zaun und über die Felsenklippe bis hinunter ins Meer. Er würde eine glänzende, silbrige Haut bekommen und ein immerwährendes Lächeln. Er würde ein besonderes Organ bekommen â wie ein Herz, aber anders â, das mit Ãl gefüllt ist und »Melon « genannt wird. Es würde sich bei ihm unter der Stirn befinden und wäre dazu da, Geräusche hervorzubringen, damit er sich auch im finstersten Ozean in der dunkelsten Nacht zurechtfinden könnte.
Nathaniel stellt sich vor, wie er von der Küste von Maine wegschwimmt, bis ans andere Ende der Welt, wo es schon fast wieder Sommer ist. Er preÃt die Augen, so fest er kann, zusammen, konzentriert sich darauf, ein fröhliches Geräusch zu
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