Die Maechtigen
zum Weißen Haus. Drei, wenn man in der Kolonne des Präsidenten fährt.
»Wir müssen sofort hier raus!«, erkläre ich und bemühe mich, den Kaffee mit meinen Kittel aufzuwischen.
Orlando starrt weiterhin den Stuhl an. An einer Seite ist genau unter dem Sitz wie bei einem Briefkasten ein kleiner Schlitz in das Holzstück gedrechselt, welches das vordere linke Bein mit dem hinteren verbindet.
»Hast du eine Ahnung, was das hier …?« Er schüttelt den Kopf. Sein strahlendes Grinsen ist ihm vergangen. »Du hast recht. Wir müssen es melden.«
»Ich bin mir nicht mehr sicher. Lass uns noch mal darüber nachdenken.«
»Beech, wenn jemand diesen Stuhl hier als toten Briefkasten benutzt …«
»Das weißt du doch nicht.«
»Toter Briefkasten?«, fragt Clementine.
»Eine Art Versteck«, sagt Orlando.
Ich bemerke ihre Verwirrung. »Das ist ein Ort, wo man etwas für eine andere Person verstecken kann, um das Risiko einer direkten Begegnung zu vermeiden. So, als würde man etwas unter einen Briefkasten kleben oder in einen ausgehöhlten Baum legen oder …«
»… in einen Stuhl schieben«, meint Clementine, die jetzt offenbar voll im Bilde ist. Mit diesem Schlitz unter dem Sitz ist es ein Kinderspiel, etwas in den Stuhl zu schieben, und es ist ebenso leicht, es wieder herauszuholen. »Wenn dieser SCIF nur von President Wallace benutzt wird und jemand etwas hier für ihn versteckt hat …«
»Oder von ihm versteckt wurde«, wirft Orlando ein.
»Red nicht! Das können wir nicht wissen. Wir wissen überhaupt nichts«, erwidere ich störrisch.
»Glaubst du eigentlich selber, was du sagst? Du hältst das alles hier nur für ein kleines, unschuldiges Missverständnis à la Herzbube mit zwei Damen ?«, faucht Orlando. »Oder machst du dir nur darüber Sorgen, dass dein Name für immer mit diesem Präsidentenquatsch verbunden sein könnte, über den wir gerade gestolpert sind, wenn ich das offiziell melde?«
An einer Ecke der Aktenmappe bläst sich jetzt ein einzelner Tropfen Kaffee auf, fällt aber nicht herunter.
»Wir sollten sie öffnen und nachsehen, was drin ist.« Clementine ist merklich gelassener als wir beiden Jungs.
»Nein, wir machen das auf keinen Fall auf!«, erkläre ich.
»Was soll das heißen?«, will Orlando wissen.
»Hast du noch nie einen Horrorfilm gesehen? Es gibt immer diesen Moment, in dem ein Geräusch aus dem Wald kommt und irgendein Blödmann sagt: Lass uns nachsehen, woher dieses Geräusch kommt … Natürlich weißt du sofort, dass er der Erste ist, der dran glauben muss. Also … wir sind jetzt in diesem Horrorfilm, und diese kleine Aktenmappe ist die Büchse der Pandora. Solange wir sie geschlossen lassen, solange wir nicht wissen, was in der Büchse ist, können wir unsere Hände in Unschuld waschen.«
»Es sei denn, in der Büchse wäre ein echtes Monster«, spekuliert Orlando.
»Orlando …«
»Von wegen Orlando. Das hier ist mein Job, Beecher.«
»Klar. Vor zwei Sekunden hast du mir noch geraten, die Mappe zurückzulegen.«
»Trotzdem ist es mein Job. Ich patrouilliere über die Flure, ich checke die Ausweise, deswegen nennt man das Security . Tut mir leid, dass wir das hier im Leseraum des Präsidenten gefunden haben, aber so ist es nun einmal. Und wenn er oder jemand anders ein Verbrechen begeht oder geheime Dokumente in oder aus dem Gebäude schmuggelt, sollten wir dann wirklich einfach wegschauen und so tun, als hätten wir nichts gesehen?«
Ich hebe nicht den Kopf, aber rechts von mir sehe ich unter meinen Wimpern das Poster mit der roten Warnung auf der geschlossenen Stahltür. Es beunruhigt mich nicht annähernd so stark wie der Ausdruck der Enttäuschung auf Clementines Gesicht. Offenbar hat sie nicht viel für Schwäche übrig. Der durchdringende Blick ihrer rotbraunen Augen verrät mir, dass sie keine Ahnung hat, wie ich mich entscheiden werde.
Wenn sie mich doch nur besser kennen würde.
Ich werfe die feuchte Mappe auf den Tisch. »Denkt immer daran, wenn der CIA uns mitten in der Nacht schnappt und uns die schwarzen Säcke über den Kopf stülpt, dann war dieser Augenblick unsere letzte Chance, es zu verhindern.« Die Mappe landet mit einem leisen Knall auf dem Tisch.
Clementine sagt kein Wort, dann tritt sie einen halben Schritt vor und schiebt den Kopf vor, als hätte sie etwas völlig Neues in meinem Gesicht entdeckt. Ich registriere dasselbe in ihrem Gesicht. Ich kenne dieses Mädchen seit der siebten Klasse. Und jetzt ist sie zum ersten Mal wirklich
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