Die Maechtigen
loszugehen.
»Nun nimm das verdammte Mädchen schon mit rein«, sagt eine tiefe Stimme von links. Von oben im Gang kommt ein älterer schwarzer Mann mit einem riesigen Schnauzbart auf uns zu. In der Hand hält er einen großen Becher mit Kaffee. Trotz seines Alters wirkt er immer noch so muskulös wie unsere jungen uniformierten Security-Leute. Aber ein Blick auf seine Grübchen und sein herzliches Lachen genügt, und sofort ist klar, dass Orlando Williams eher ein Schmusekater denn ein Löwe ist.
»Ist sie das Mädchen, in das du früher so verliebt warst? Die dein Herz wieder heilen wird, das Iris dir gebrochen hat?« Orlando schreit, obwohl er nur wenige Schritte von uns entfernt ist.
»Wer ist Iris?«, will Clementine wissen.
In jedem Büro gibt es ein Großmaul. Orlando ist unseres, genauer, meines, und zwar, seit er herausgefunden hat, dass ich erstens: aus seinem Heimatstaat Wisconsin komme, und zweitens: der einzige Archivar war, der bereit gewesen ist, dem Chef seines Schwagers eine Privatführung durch den Tresorraum zu geben.
Seitdem ist er fest entschlossen, sich dafür zu revanchieren.
»Nimm sie nur mit rein, ich werde das in meinem Protokoll nicht erwähnen«, fügt er hinzu, steckt das Klemmbrett unter den Arm und trinkt einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.
»Orlando, ich weiß deine Freundlichkeit wirklich zu schätzen, aber könntest du einfach nur …?«
»Was denn? Ich will dir nur helfen, damit du deine Liebe zum Abenteuer unter Beweis stellen kannst.« Dann dreht er sich zu Clementine herum. »Hat er Ihnen schon von seiner Zeit als Hochzeitsfotograf erzählt?«
»Orlando …«, warne ich ihn.
»Du warst Hochzeitsfotograf?«, hakt Clementine sofort nach.
»Nach dem College. Ich bin hierhergezogen, weil ich hoffte, als Fotograf für die Washington Post arbeiten zu können. Stattdessen habe ich drei Jahre lang Hochzeiten in Annapolis fotografiert. Es war soweit ganz in Ordnung«, behaupte ich.
»Jedenfalls bis er die Chance erhielt, Menschen direkt zu helfen, als er zu uns kam. Jetzt ist er unser Held.«
Clementine grinst Orlando keck an. »Ich weiß dieses plumpe Loblied durchaus zu schätzen, aber Ihnen ist schon klar, dass Beecher auch sehr gut ohne auskommt?«
Orlando erwidert ihr Lächeln. Er mag sie. War klar.
»Also, gehen Sie mit rein?« Orlando lässt sie nicht aus den Augen. »Der Präsident taucht heute nicht vor …« Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Sie haben auf jeden Fall mindestens eine Stunde. Vielleicht verspätet er sich ja auch. Der Handkarren mit seinen Akten ist noch nicht mal drin. Wen sollte es stören, wenn sie sich einen leeren Raum ansieht?«
Ich starre auf die hellblaue Tür und das Kombinationsschloss, ich weiß die Kombination natürlich auswendig. Kein Zweifel, es ist ein Kinderspiel, aber die Vorschriften …
»Heilige Weihnacht, Beecher! Soll ich die verdammte Tür für sie selbst aufmachen?«, dröhnt Orlando.
Er geht zu einer Rufsäule und drückt auf den silbernen Knopf der Sprechanlage. Ein kleines rotes Licht blinkt, und eine weiche Stimme antwortet: »Security.«
»Venkat, hier spricht Orlando«, sagt er und hält den Mund dabei ganz dicht an die Sprechanlage. Ich erinnere mich an den Namen aus unserer Mitarbeiterliste. Venkat Khazei. Stellvertretender Chef der Security.
»Ich öffne SCIF 12E1«, sagt Orlando. »Nur eine Routinekontrolle.«
»Hört sich gut an. Nur denken Sie dran: Moses ist unterwegs«, erwidert Khazei. Er benutzt den internen Codenamen für den Präsidenten.
»Deswegen kontrolliere ich den Raum ja vorher«, bellt Orlando zurück.
In der Sprechanlage bleibt es einen Moment ruhig, dann knistert es noch einmal: »Viel Spaß.«
Als Orlando zu uns zurückkommt, ist sein Grinsen noch breiter geworden.
Unter meinem Hemd trage ich ein dünnes Lederhalsband mit einem alten Hausschlüssel. Ich habe während der Highschool in Farris’ Antiquariat gearbeitet und diesen Schlüssel in einem alten Wörterbuch als Lesezeichen gefunden. Es ist verrückt, aber es war genau der Tag, an dem ich in Wisconsin angenommen wurde, also der erste Schritt aus meiner kleinen Stadt heraus. Der magische Schlüssel blieb bei mir. Ich trage ihn jetzt schon so lange, dass ich ihn kaum noch spüre. Nur wenn ich schwitze und er an meiner Brust klebt. So wie jetzt.
»Beecher«, flüstert Clementine, »wenn es dir unangenehm ist, können wir den Raum auch einfach auslassen und …«
»Schon gut. Kein Problem«, falle ich ihr ins Wort und
Weitere Kostenlose Bücher