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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Hund.
    »Sam, weißt du, was sie ist?«, rief das Mädchen und lachte laut auf.
    Der kleine Junge japste.
    »Sie ist eine Hexe. Eine böse Hexe.« Das Mädchen kicherte. »Und wenn du Mama was verrätst, dann …«
    Die restlichen Worte wurden vom Laub erstickt, das knirschte und knisterte, als Berta den verwilderten Vorgarten ihres Hauses betrat. Als hätte er dort auf sie gewartet, fiel ihr plötzlich der Name des Mädchens ein.
    Sie heißt Lisa. Süße, böse Lisa, und jetzt kannst du nicht länger leugnen, an wen sie dich erinnert.
    Bertas Kehle entrang sich ein hemmungsloses Schluchzen, das der Wind wie das Heulen eines Wolfes durch den Ort trieb.
    »Hey, hast du mich verstanden?«
    Obwohl seine Schwester neben ihm stand, drangen die Worte wie aus weiter Entfernung an Sams Ohr. Mit der Hand wedelte sie ungeduldig vor seinem Gesicht herum.
    »Träumst du oder was?«
    Sam holte Luft. Noch einmal schaute er der alten Kirchberger nach, die auf ihrem verwilderten Hof verschwand. Tagsüber wagte sich die bucklige Gestalt fast nie vor die Tür. Nur spätabends geisterte sie durchs Dorf und jagte den Leuten einen Heidenschrecken ein, wenn sie vor ihnen wie ein Gespenst auf der Straße erschien. Dass sie dabei ständig wirres Zeug vor sich hin murmelte, nährte nur die Gerüchte, die die anderen Kinder sich im Dorf über sie erzählten.
    Bei dem Gedanken an diese Geschichten, mehr aber noch an den düsteren Blick, den sie Lisa und ihm zugeworfen hatte, bekam es Sam gleich wieder mit der Angst zu tun.
    »Sie ist eine Hexe. Eine böse Hexe«, sagte Lisa grinsend und zeigte auf die greise Frau. »Und wenn du Mama was verrätst, dann passiert etwas Schlimmes. Hast du verstanden?«
    Sam wurde wütend, allerdings hauptsächlich auf sich selbst. Er wusste, dass es nur dumme Schauermärchen waren, die die anderen Kinder erzählten. Es gibt keine Hexen! Seine Schwester hatte sich nur einen Scherz mit ihm erlaubt. Ständig piesackte sie ihn, so wie ihn die anderen Jungen in der Schule immer ärgerten. Weichbemme , nannten sie ihn, Gartenzwerg oder auch Schwuchtel . Sam hatte zwar keine Ahnung, was das bedeutete, aber er war sich sicher, dass es nichts Schönes war. Deswegen ging er den Jugendlichen lieber aus dem Weg Und auch der alten Kirchberger.
    »Also was jetzt?«, blaffte Lisa.
    Weil Sam nicht genau wusste, was sie meinte, nickte er nur.
    »Scheiße, was soll das heißen?«
    Er nickte noch einmal.
    Lisa stöhnte. »Also hältst du die Klappe?«
    Erneutes Kopfnicken.
    »Schön«, sagte Lisa lächelnd.
    Ich möchte nicht, dass du über mich lachst wie die anderen Kinder im Dorf , hätte Sam ihr gerne gesagt, aber er wollte nicht, dass sie sich wieder aufregte. Also hielt er lieber den Mund.
    Zufrieden schulterte seine Schwester ihren Rucksack. Aus einer der Seitentaschen brachte sie einen funkelnden Armreif zum Vorschein, den Sam noch nie an ihr gesehen hatte. Sie schob ihn über ihr Handgelenk, dann setzte sie sich in Bewegung. Ihr schwarzes Kleid flatterte im Wind, und das helle Klackern ihrer Absatzschuhe vermischte sich mit dem Rascheln von Laub.
    »Lisa«, rief Sam.
    Obwohl seine Schwester ihm den Rücken zuwandte, wusste er ganz genau, dass sie die Augen verdrehte. »Was denn?«
    Verlegen blickte er zu Boden.
    »Kommt da noch was?«
    Er knibbelte nervös an seinen Fingernägeln.
    »Sam, ehrlich«, seufzte sie, »manchmal bist du …«
    »Du kommst doch zurück, oder?«, platzte es aus ihm heraus.
    Lisa stieß einen Seufzer aus. »So ein Blödsinn, ehrlich!«
    Sams Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte nichts dagegen tun.
    »Natürlich komme ich zurück«, sagte seine Schwester lächelnd. »Am Montag.«
    Diesmal fand Sam es nicht schlimm, dass sie lachte.
    »Aber denk dran …« Mit den Fingern machte Lisa vor dem Mund eine Bewegung, als würde sie einen Reißverschluss zuziehen. Wenn du Mama was verrätst, passiert etwas Schlimmes. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. I want you to make me feel , begann sie dabei eines ihrer Lieblingslieder zu summen, like I’m the only girl in the world .
    Ihr fröhliches Summen wurde leiser, ebenso wie das Klackern ihrer Absätze. Wenig später wurde beides vom Rattern eines vorbeifahrenden Pkw verschluckt. Das helle Scheinwerferlicht glitt über Sam hinweg, bevor der Wagen wieder in der Dunkelheit verschwand. Stille kehrte ein.
    Langsam trottete Sam heim. Sein großer Zeh schmerzte wieder. Obwohl er seit kurzem keinen Gips mehr tragen

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