Die Mafia - 100 Fragen 100 Antworten - FAQ Frequently Asked Questions MAFIA
die Irre führen. Sie erzählen den Staatsanwälten von Caltanissetta »ihre« Wahrheit und fügen damit den Prozessen von Caltanissetta ein Puzzleteilchen hinzu, aber nur, um damit zwei Puzzleteilchen aus den Prozessen in Palermo herauszubrechen. Es gab auch
pentiti
, die nach vielen Jahren im Zeugenschutzprogramm nach Sizilien zurückkehrten, um wieder zu schießen und zu morden.
Jedenfalls kommt es selten vor, dass ein Mafiaaussteiger echte moralische Reue zeigt. Vielleicht war dies sogar nur bei Leonardo Vitale der Fall, der eine tiefe religiöse Krise erlebte.
60. Seit wann gibt es Mafiaaussteiger?
Seitdem der Untersuchungsrichter Falcone auf den Plan trat. Vorher gab es Informanten, die von den Polizeibehörden und den Sondereinheiten angeworben und gesteuert wurden. Über ihre Aussagen haben weder die Richter und Staatsanwälte nochsonst irgendjemand Kontrolle. Die große Wende kam, als der hochkarätige Mafioso Buscetta in den Rang eines Kronzeugen der Justiz erhoben wurde und seine Aussagen auf institutioneller Ebene gewürdigt, zu Protokoll genommen und zu einem wichtigen Instrument der Beweisführung wurden.
Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Rolle eines Kronzeugen und der eines Informanten: Das gesetzlich Zulässige ist von Willkür und Illegalität nur durch einen schmalen Grat getrennt. Vor Falcone wurden die Aussagen eines Informanten von den Bullen nach Belieben benutzt (ich sage absichtlich »Bullen« und nicht »Polizei«). Mit Falcone änderte sich dies alles. Die von Buscetta gelieferten Informationen wurden amtlich und flossen in vollem Umfang in die Ermittlungsakten ein – alles unter strikter Einhaltung und Anwendung der Gesetze.
Trotz der Vorschriften kam es manchmal vor, dass bei komplizierten Mafiastrafsachen manche Abteilungen von Polizei und Justiz die Kronzeugen weiterhin so benutzten wie zuvor die Informanten. Mit Versprechungen, Erpressungen und Tauschgeschäften wurden die Ermittler auf eine falsche Spur gelenkt.
61. Inwieweit deckt sich die gerichtlich ermittelte Wahrheit mit der Wahrheit der Fakten?
Die gerichtlich ermittelte Wahrheit enthüllt häufig nur einen Teil, manchmal sogar nur Bruchstücke der Wahrheit. Die Justiz folgt einer anderen Dynamik als die Cosa Nostra. Die Ermittlungen oder ein Prozess dauern Monate oder höchstens ein paar Jahre. Die Cosa Nostra dagegen rechnet – wie früher in der Sowjetunion – in Zehn- oder Zwanzigjahresplänen oder in noch längeren Zeiträumen. Sie verfolgt ein strategisches Ziel und beschränkt sich nicht darauf, das unmittelbare Geschehen zu beurteilen, sondern hat die Zukunft im Blick, bedenkt die Folgen jedes einzelnen Schritts und investiert stets langfristig. Die Justiz führt einen ungleichen Kampf gegen die Mafia, denn die Cosa Nostra hat Zeit, endlos lange Zeit. Das Ergebnis dieses ungleichenKampfes ist fast immer eine gerichtlich ermittelte Teilwahrheit. Das lässt sich praktisch nicht vermeiden.
Nehmen wir zum Beispiel den sogenannten »Mafiakrieg«, der von Frühjahr 1981 bis Herbst 1983 dauerte. Siebzig Bauern kamen von der Rocca Busambra, dem Berg über dem Ort Corleone, herunter (man nannte sie
peri incritati
, verdreckte Füße) und löschten die Aristokratie der Mafia aus: tausendfünfhundert Tote in Westsizilien innerhalb von zweieinhalb Jahren.
Dieser Mafiakrieg wurde in einer Reihe von Prozessen in Palermo rekonstruiert, die sich über fünfzehn Jahre hinzogen; erfahrene Staatsanwälte und Ermittler folgten dabei streng den Vorschriften. Doch das Ergebnis ist lediglich in straf- und verfahrensrechtlicher Hinsicht als befriedigend zu betrachten. Die historische Wahrheit muss erst noch ergründet werden. Heute noch fragen sich die Sizilianer: Wie kann es sein, dass es jenen siebzig Bauern ohne mafioses Renommee und ohne enorme Reichtümer im Rücken gelang, aus eigener Kraft einen Teil des Systems der Cosa Nostra zu beseitigen, das sich hundertfünfzig Jahre lang behauptet hatte?
Was als Mafiakrieg bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit kein Krieg, sondern ein Vernichtungsfeldzug. Tote und Verletzte zählte man letztlich nur auf einer Seite, bei den Gegenspielern der Corleoneser. Aus der gerichtlichen Rekonstruktion ergab sich, dass Totò Riina überall, in jeder Familie Palermos, seine Spitzel eingeschleust hatte. Jeden Zug seiner Feinde erfuhr er in Echtzeit. Die Bosse und Unterbosse aus den traditionellen Mafiafamilien Palermos hatte er für sich gewonnen. Sie verrieten ihre alten
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