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Die Magie des Falken

Die Magie des Falken

Titel: Die Magie des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruben Philipp Wickenhaeuser
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aufzustehen, schlug fehl – beim zweiten gelang es ihm nur mit größter Mühe, sich aufrecht zu halten. Alles drehte sich um ihn. Kaum bei Sinnen, streifte er seinen Kittel über. Er tastete sich ins Freie, am nächstbesten Flechtzaun entlang, und es fühlte sich an, als steche ihm das fahle Morgenlicht geradewegs in den Schädel. Unter Schmerzen kniff er die Augen zusammen. Beinahe wäre er in das knapp anderthalb Schritt breite Bächlein gefallen, das den Bohlenweg begleitete, dann stolperte er auch noch über das Brett, das die eine Handbreit tiefergelegte Straße säumte, und musste für einen Augenblick hingekauert verharren, bis der Schwindel nachgelassen hatte. Ohne ein Wort wankte er in Ketils Haus, an dem entsetzten Hausherrn vorbei und ließ sich auf sein Lager fallen. Eng zusammengerollt, hielt er die Augen geschlossen und kämpfte gegen den Schwindel an, der ihm das Gefühl verlieh, als würde er gegen die Decke geschleudert. Wer auch immer ihn überfallen hatte, hatte ihn den bösartigsten Geistern ausgeliefert, die es in Heiabýr gab. Kyrrispörr kam der Gedanke, ein Austreibungsritual zu machen, aber wie zur Strafe wurde er von einem neuerlichen Schwindelanfall erfasst und so heftig gebeutelt, dass er wimmerte und die Hände rechts und links in die Decke krallte.
    So war von einem Augenblick zum nächsten Kyrrispörrs Hoffnung, als Seimar der verbliebenen Þórrsanbeter wirken zu können, zerschlagen worden.
     
    »Kyrrispörr!«, rief Ketil ihm zu, als er gerade einen Knaben für den Verkauf vorbereitete. Kyrrispörr ließ die Schale mit dem Duftöl sinken, das eines von Ketils Geheimrezepten zur Erhöhung der Schönheit war, und sah auf.
    »Morgen ist der Tag des Herrn. Nach Sonnenaufgang gehen wir zur Messe.«
    »Zur Messe?«, fragte Kyrrispörr verdutzt und stellte die Ölschale auf eine Truhe. Dann erinnerte er sich an das Silberkreuz, das Ketil um den Hals trug.
    »Ich wollte eigentlich … Es kommt doch der Gesandte vom Rhein …«
    »Nicht am Feiertag! Was denkst du denn.« Ketil sah ihn schräg an. »Du bist wirklich durch und durch Heide.«
    Kyrrispörr mied Ketils Blick und erwiderte nichts.
    »Na ja. Du trägst ja auch kein Kreuz um den Hals«, meinte Ketil. »Na, dann bleib da, aber sorge dafür, dass du meiner Frau morgen früh nicht über den Weg läufst.«
    »Ich könnte Wachdienst versehen!«, schlug Kyrrispörr vor.
    Ketil runzelte die Stirn und nickte.
    »Gut. Mach den Kerl hier fertig, der Franke kann jeden Moment da sein. Melde dich heute Abend noch bei Björn und sag ihm, dass du morgen auf den Wall gehst. Vielleicht können wir die Wache unter der Woche verschieben.  – Ja«, murmelte er bei sich, »das ist gut. – Aber glaub nicht, dass du immer so davonkommst. In meinem Haus will ich Christen haben, keine abergläubischen Þórrsanbeter.«
    Damit ging er fort. Kyrrispörr konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken. Sich bekehren lassen! So weit kam es noch! Den Glauben von Olaf, dem Verräter, annehmen! Der Junge schnaubte erschrocken auf, als Kyrrispörr zu heftig zupackte. Nie würde er Christ werden, dachte Kyrrispörr und band dem Knaben wieder die Hände, die der ihm hinhielt. Anschließend stellte er den Sklaven in jene Ecke des Hofes, wo die Sonne am vorteilhaftesten das Handelsgut ausleuchtete. Während er in den Stall zurückging, um den zweiten Kandidaten zu holen, wurde er den Gedanken an die Messe nicht los.
    Der Händler kaufte den Jungen. Ketil war zufrieden, denn als er den Mann mit dem unauffällig gekleideten Sklaven hinausführte, war seine Silberkatze schwerer, als er zu hoffen gewagt hatte.

Der weiße Engel
    Gedankenverloren blickte Kyrrispörr über die Heidelandschaft, die sich vor ihm ausbreitete. Hier oben auf der Krone der Holzpalisade und mit der Stadt im Rücken konnte er seine Gedanken schweifen lassen, ohne sich unnütz vorzukommen, wenngleich ihn wieder ein ungutes Gefühl quälte. Er hörte die Schritte der Ablösung hinter sich. Mit einem Seufzer löste er sich von der Brüstung, nickte dem Mann zu und ging die kurze Holztreppe die Schanze hinab zur Oberstadt. Hier, wo der Boden etwas höher lag, gab es überwiegend Grubenhäuser. Die Seitengassen waren nicht überall mit Brettern belegt. Jenseits des Handwerkerviertels mit seinen zahllosen Schmieden wohnte, wer sich gerade so ernähren konnte, viele Alte, einige Glücklose, viele ärmere Durchreisende, die für ein Stück Wurst bei den Grubenhäusern übernachten durften.

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