Die Magie des Falken
Satz über ihn hinweg und auf den Weißhaarigen zu. Der Jagdhund reagierte sofort und biss den anderen in den Hinterlauf, ließ auch nicht los, aber der Straßenköter war massig gebaut und riss ihn mit sich zu Boden. Dabei stürzte der Angreifer mit seinem ganzen Körpergewicht dem Weißhaarigen zwischen die Füße. Die schmierigen Holzbohlen taten ihr Übriges: Der Mann stürzte, schaffte es zwar, sich mit der rechten Hand abzustützen, öffnete dabei jedoch die behandschuhte Hand, und der Gerfalke flog mit einem Schrei hoch – die Geschühriemen glitten durch die Finger, und einer Wintersonne gleich stieg der Vogel empor. Kyrrispörr war entsetzt: Blind, wie der Gerfalke mit seinen zugebundenen Lidern war, würde er fliegen, bis er irgendwann, irgendwo aus Entkräftung niederging, und das wahrscheinlich aus großer Höhe.
Doch im Augenblick war der Falke noch zu verwirrt, um aufzusteigen – er flatterte wild drauflos, geradewegs zum Hafenbecken, zog knapp an einem straffen Tau einer Takelage vorbei und geriet ins Schlingern. Wie durch ein Wunder führte sein Weg ihn genau auf einen Pfosten zu, der im Hafenbecken aufragte. Er prallte ziemlich weit oben gegen ihn, es gab viel Flügelschlagen und Zappeln, und schließlich gelang es dem Falken tatsächlich, sich darauf zu setzen. Der blinde Vogel blieb sitzen und sperrte vor Aufregung den Schnabel. Ein Raunen der Erleichterung erklang um Kyrrispörr herum. Niemand hatte dem Straßenköter mehr Aufmerksamkeit geschenkt, der unter herzerweichendem Jaulen fortzukommen versuchte und von dem Jagdhund schnell und gnadenlos totgebissen wurde.
»Ein Boot!«, erklang eine herrische Stimme hinter Kyrrispörr.
»Nein, nicht!«, rief er hastig. Der Weißhaarige sah ihn entgeistert an. Kyrrispörr schluckte, nahm seinen Mut zusammen und erklärte hastig: »Es dauert zu lang! Wenn Ihr den Falken erschreckt, ist er fort! Ich hole ihn.«
»Du?«, fragte der Weißhaarige. Warum der Mann es ihm mit einem Nicken erlaubte, wusste sich Kyrrispörr hinterher selbst nicht zu erklären.
Aber das war jetzt ganz egal. Noch nie hatte Kyrrispörr sich so schnell ausgezogen. Eilig ließ er sich vom Steg ins Wasser gleiten, stieß sich ab und schwamm auf den Pfahl zu, auf dem der blinde Gerfalke thronte. Er musste sich zwingen, nicht zu schnell zu schwimmen, gerade so, dass er kaum Geräusche verursachte. Das letzte Stück legte er im Schleichtempo zurück. Er machte so langsame, weitausholende Schwimmzüge, wie es ihm nur möglich war. In Gedanken dankte er Hæric, dass er ihm von klein auf Schwimmen beigebracht hatte.
Doch dann schrak er auf: In der Hafeneinfahrt zeigte sich der Bug einer Knorr! Wenn sie einfuhr, war der Falke fort. Er sah, wie den Turmwachen zu beiden Seiten der Einfahrt ebenfalls erst jetzt bewusst wurde, dass sie die Rettung gefährden konnte. Wild machten sie Zeichen zur Knorr hinüber. Kyrrispörr war ihnen unendlich dankbar, dass sie nicht brüllten. Ob ihre Bemühungen Erfolg hatten, das Boot zu stoppen, konnte er nicht abwarten. Eine Bootslänge trennte ihn von dem Pfahl. Er legte seine ganze Aufmerksamkeit in die zwei, drei letzten Schwimmzüge, ehe er endlich den glitschigen Pfahl an den Fingerspitzen spürte. Eine Kaltwasserströmung strich ihm um die Beine. Wo war das Schiff? Hatte es gestoppt werden können? Oder würden jeden Augenblick Ruder ins Wasser platschen und den Ger aufscheuchen? Kyrrispörr hatte keine Zeit, es zu überprüfen. Keine überflüssige Bewegung, das ging ihm allein durch den Kopf. Und trotzdem schnell sein! Schneller!
Endlich erfassten seine Hände den Pfahl. Er zog die Beine an und umschlang das Holz mit ihnen. Keine Armeslänge über ihm saß der Falke. Das Plätschern des Wassers klang wie fein splitterndes Glas in seinen Ohren. Er wagte kaum zu atmen.
Langsam, ermahnte er sich. Jetzt nur keine hastige Bewegung! Oinn und Njörd, schickte er ein Stoßgebet gen Himmel, helft, dass das Schiff nicht näherkommt. Helft, dass der Falke sich nicht jetzt gerade dazu entschließt, aufzufliegen.
Wie als Antwort schüttelte der Falke sein Gefieder, und das Blut gefror Kyrrispörr in den Adern. Aber anstatt abzuschmelzen, schlank zu werden und hochzufliegen, trippelte der Falke nur auf dem Pfosten und saß wieder still.
Kyrrispörr umarmte den Pfahl und streckte sich so langsam, wie es eben möglich war. Er setzte die Hände ein Stückchen höher. Noch ein wenig. Die Finger begannen ihm wehzutun, als er sie mit aller Kraft ins glatte
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