Die Magie des Falken
Sogar die Hühner sahen mitgenommen und krank aus. Die Unterstadt befand sich fast auf Wasserstandshöhe der Schlei. Ein wenig weiter in Richtung Hafen drängten sich die Häuser um die Bohlenwege, und wenn die Höfe zwischen ihnen überhaupt mit einem Zaun abgetrennt waren, waren sie doch recht klein und vollgestellt mit Handwerkszeug, und Kleinvieh tummelte sich zwischen Gemüsebeeten.
Kyrrispörr ließ sich treiben. Ganz von selbst führten ihn seine Schritte an die Stege des Hafens. Hier herrschte ununterbrochen geschäftiges Treiben. Zwei abgetakelte Knorrs lagen etwas abseits, und die Seeleute eines kleineren Skuders machten die Abdeckhäute los und handelten vom Schiff aus ihre Ware gegen ein Bündel Rentiergeweihe, das ihnen zum Tausch angeboten wurde, während gerade ein schlankeres Langschiff behutsam von seinen vier Ruderern an den Kai gesteuert wurde. Kyrrispörr ließ sich auf einer Wagenkiste nieder und verfolgte, wie unter lauten Rufen Taue herübergeworfen und die Ruder eingezogen wurden. An der Mundart der Seeleute erkannte er, dass sie aus Island kamen. Neugierig verfolgte er, wie Karren herbeigeschafft wurden, um die Wagenkästen aufzunehmen, derweil bereits einige Händler auf den Kai kamen, um gleich hier einen Handel abzuschließen. Ein hochaufgeschossener Isländer mit schulterlangen, strohblonden Haaren und wettergegerbtem Gesicht führte die Aufsicht über die Verhandlungen. Zwei Zöllner kamen aus dem Steghaus und schätzten die Menge der Waren. Einer der Händler übernahm gleich darauf hocherfreut ein Bündel Robbenfelle und eilte in einem günstigen Augenblick davon, als die beiden Zöllner mit der Sichtung der Fässer beschäftigt waren.
Und dann stockte Kyrrispörr der Atem. Hinter dem Blonden erschien ein weißhaariger Hüne, breitschultrig, in einen pelzverbrämten Klappenrock gekleidet. Auf seiner behandschuhten Linken saß ein Falke von solcher Schönheit, wie Kyrrispörr sie selbst bei König Olaf noch nicht gesehen hatte: So wuchtig wie sein Herr, gehüllt in ein Gefieder von blendendem Schneeweiß, die Augen aufgebräut über einem Schnabel, der bald so groß war wie der ganze Kopf, hockte dort ein Gerfalke von solch makellosem Aussehen, dass Kyrrispörr zu träumen meinte. Seine nicht minder beeindruckenden blauen Füße mit den messerscharfen Krallen hatte er in den Handschuh geschlagen und ließ sich in majestätischer Ruhe tragen. Einigen Händlern erging es genauso wie Kyrrispörr: Sie konnten den Blick nicht von dieser überwältigenden Erscheinung lösen. Die Knechte hingegen hatten ihn anscheinend nicht einmal bemerkt. Den beiden folgte ein sehniger Hund. Seine Ausstrahlung war die eines Jagdhundes, der immer auf der Pirsch ist: Sehr aufmerksam, mit einem alles abschätzenden Blick, seiner Kraft und Schnelligkeit wohl bewusst. Dass der Gerfalke ihm seinen Auftritt stahl, war ihm vollkommen gleichgültig.
Der Weißhaarige kümmerte sich mit der Ausnahme eines knappen Zunickens nicht weiter um das Handeln des Blonden, sondern ging zügigen Schrittes über den Steg. Als er an Kyrrispörr vorbeikam, der den Mund vor Staunen aufgesperrt hatte, bedachte er ihn mit einem unfreundlichen Blick. Hastig schloss Kyrrispörr den Mund und folgte dem Mann mit etwas Abstand.
Gerade, als der Herr seinen Fuß vom Steg an Land setzte, erscholl erbostes Kläffen, und ein räudig aussehender Hund schoss wie aus dem Nichts auf den Jagdhund zu. Kyrrispörr musste dem Jagdhund unwillkürlich Anerkennung zollen: Er ging nicht etwa darauf ein, sondern blickte nur mit einem geradezu hochmütigen Gesichtsausdruck auf den Heranstürmenden herab. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu knurren. Aber seine Sehnen spannten sich sichtlich unter dem kurzen Fell. Kyrrispörr spürte, dass das Leben des Kläffers am seidenen Faden hing – einen Augenblick lang war es ihm, als sehe er durch die Augen des Jagdhundes, aber da stieg ihm ein unbekannter Geruch in die Nase, und eine unerklärliche Angst überfiel ihn.
Indessen hatte der Straßenköter den Jagdhund erreicht, der ruhig wie eine Mauer zwischen ihm und seinem Herrn stand. Der Gerfalke drehte unruhig den Kopf hierhin und dorthin, blieb aber still, da er nichts sehen konnte. Der Straßenköter wagte nicht, den Jagdhund anzugehen, sondern kläffte wild. Der Herr ging indes weiter, als wäre nichts geschehen. Da tat der Straßenköter etwas Unerwartetes: Anstatt es beim Drohen zu belassen oder seinen Artgenossen zu attackieren, machte er einen
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