Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
geschlossen; die Menschenmenge war nach Hause zurückgekehrt. Die Schatten begannen entlang des Kopfsteinpflasters der Straße länger zu werden und malten unheimliche Formen in die Winkel und Seitengässchen. Es hätte beinahe romantisch wirken können, wenn sie jemanden an ihrer Seite gehabt hätte, mit dem sie Arm in Arm hier entlangschlendern konnte, um zu tuscheln, wie Liebende es stets zu tun schienen. Nicht aber heute Abend. Heute Abend erinnerte sie sich nur zu gut an ihre Kindheit – daran, wie sie mit anderen von der Hintertür eines Händlers zur nächsten gerannt war, um Essen oder Geld zu erbetteln, und wie sie den tieferen Schatten ausgewichen war, in denen sich Menschenjäger verstecken mochten, die darauf hofften, ein unbeaufsichtigtes Kind zu ergreifen und an die Sklavenhändler zu verkaufen. Oder an die Danisoba-Magi, für ihre Experimente.
Die Danisoba-Schule lag auf der Windseite von Eldraga. Es war ein ausgedehnter Komplex schwarzer Steingebäude. Falkin hatte die Schule nur aus sicherer Entfernung vom Deck der Vogelfrei aus gesehen. Niemand außer den Magi selbst begab sich je dorthin. Sogar die Adligen, die die Magi regelmäßig beschäftigten, nutzten ein System bunter Flaggen, um sie herbeizurufen.
Die Danisober bedienten sich ihrer Fähigkeiten, um überall auf den Neun Inseln Verheißungen aufzuspüren, Kinder mit magischem Potential. Sobald ein Kind gefunden war, wurden die Faktoren ausgesandt, um dieses Kind in Besitz zu nehmen. Was die Eltern des Kindes dabei empfanden, spielte keine Rolle. Wenn sie ihre Kinder klaglos aufgaben, gestanden ihnen die Faktoren eine großzügige Entschädigung zu, um die Belastung zu mildern, die es bedeutete, dass ihnen ihre Söhne und Töchter schreiend aus den Armen gerissen wurden. Diejenigen Eltern, die protestierten, wurden bestraft. Sobald die Kinder im Schulkomplex untergebracht waren, verließen sie ihn nicht mehr, bis sie das Erwachsenenalter erreicht hatten.
Aber sie waren diejenigen, die Glück hatten. Nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatten, eröffneten viele Magi Werkstätten in der Stadt, um nahe an allen Materialien zu sein, die sie benötigen mochten. Sie waren oft durch die Straßen gewandelt, als Falkin noch ein Mädchen gewesen war. Wenn ein Magus unterwegs war, schlüpfte sogar der tödlichste Halsabschneider lieber in die Schatten, als sich bemerken zu lassen. Für die Straßenkinder war die größte Gefahr von ihnen ausgegangen: Immer wieder waren welche mit Süßigkeiten und schmeichelnden Worten dazu verlockt worden, einem Magus in seine Werkstatt zu folgen. Niemand hatte sie je wiedergesehen. Falkin war mit Gerüchten darüber aufgewachsen, zu welchen Zwecken diese geraubten Kinder dienten.
Sie erschauerte, legte eine Hand auf ihren Degengriff und genoss die Kraft, die ihr diese kleine Geste aufs Neue verlieh. Sie war nicht länger ein schutzloses kleines Mädchen. Gut, der Mann vom Schiff mochte ein Magus sein. Dass er sie jetzt schon zweimal angelächelt hatte, hieß noch nicht, dass er ihr auch irgendetwas antun konnte. Er war immer noch ein Mann – wahrscheinlich aber in dem Irrglauben gefangen, sie sei Freiwild und leicht zu erobern. Aber sollte er das doch nur glauben! Er würde erst einmal an ihrem Stahl vorbeikommen müssen. Und das hatten noch nicht viele Männer geschafft. Sie lächelte still vor sich hin. Vielleicht war sie nicht die Stärkste in Binns’ Mannschaft, aber mit einer Klinge war sie ganz gewiss die Beste. Sie verfügte über eine natürliche Anmut und Zielgenauigkeit, und zwar in solchem Maße, dass Binns es mittlerweile ihr überließ, neue Mannschaftsmitglieder zu unterweisen, die vorher noch keine Erfahrungen mit dem Degen gesammelt hatten.
Sie drückte die Schultern durch und sah die rasch dunkler werdende Straße hinunter. Ich sollte mich langsam in Trab setzen , dachte sie und spähte nach rechts und links in die Schattenflecken hinein, die jetzt auch nicht mehr bedrohlicher wirkten als die dunkelsten Orte des Laderaums auf ihrem eigenen Schiff. Artie wartet, und er wird sich Sorgen machen, wenn ich mich nicht beeile . Sie marschierte los, die Hand auf dem Degengriff; ihr Selbstvertrauen war wiederhergestellt, und sie achtete kaum auf das Prickeln im Nacken.
Kapitel 5
Und ihr, die es gehört habt gar, Sollt rufen nun »Gebt acht fürwahr! Sein blitzend’ Aug! Sein flatternd’ Haar!«
Samuel Taylor Coleridge
ZU DEM ZEITPUNKT, als Falkin den Goldenen Becher erreichte,
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