Die Magierin des Windes: Roman (German Edition)
Ich weinte wie zur Kinderzeit …
Samuel Taylor Coleridge
IHR ARM POCHTE, und ihr Brustkorb hob und senkte sich mühsam vor Erschöpfung, als sie die Marktkreuzung erreichte. Camberlins Schenke stand wie ein leuchtender Zufluchtsort genau auf der anderen Seite der Straße. Zu jeder anderen Zeit hätte sie gesagt, dass sie von dort, wo sie stand, binnen weniger Sekunden zur Tür des Wirtshauses rennen könnte.
Aber dies hier war kein Tag wie jeder andere. Wie sie bald erkannt hatte, war sie nicht weit von der Stadt entfernt gewesen, aber sie hatte länger als erhofft dafür gebraucht, die ganze Strecke bis hierher zurückzulegen: durch die Gässchen und Durchgänge, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Geheimverstecke, die sie benutzt hatte, als sie jünger gewesen war, waren nun zu klein für sie, und sie hatte sich neue ausdenken müssen. Zweimal hatte sie geglaubt, offizielle Rufe zu hören, und hatte sich in die nächstbesten Winkel oder Nischen gedrückt, die ihr als Verstecke offen gestanden hatten. Ihre Hose war triefnass davon, dass sie ausgeglitten und durch den Matsch gestapft war. Ihre Seidentunika war schlammbesudelt und zerrissen. Wo sie auch hinsah, schien sie einen Feind zu erblicken, der nur darauf wartete, sie in die Hände zu bekommen. Noch nie zuvor hatte sie so genau aufgepasst – war dieses Aufblitzen von Blau ein Soldat oder der Umhang einer Dame, der in der Ozeanbrise flatterte? Das Klirren, das sie von irgendwo auf der Straße hörte, mochte das Klimpern eines Pferdezaums sein, aber es klang wie Ketten, die bereitgehalten wurden, um sie zu fesseln. Hör auf , befahl sie sich selbst. Das ist nur deine Einbildung.
Woher weißt du das? , mischte sich eine andere Stimme ein und übertönte Falkins vernünftige Seite mit ihren argwöhnischen Einflüsterungen. Binns hat auch gesagt, du würdest dir etwas über McAvery einbilden – und sieh doch, was er davon gehabt hat! Vielleicht solltest du mehr auf deine Einbildung hören.
Während sie hier starr vor Selbstzweifeln stand und sich wie eine Idiotin aufführte, wurde ihr Kapitän und bester Freund auf ein Gefängnisschiff geschafft. Jenseits der Straße lagen Sicherheit und Hilfe. Welches Recht hatte sie, zu einem Zeitpunkt wie diesem an sich selbst zu denken? Die Stimmen in ihr wurden still. Falkin spannte die Kiefer an und sah geradeaus. Sie war schon so weit gekommen; nun konnte sie auch den Rest des Weges schaffen. Aber sie würde nicht rennen. Es würde unauffälliger sein, wenn sie so über die Straße schlenderte: ein Seemann wie jeder andere auf dem Weg zu etwas Spaß im Wirtshaus. Sie trat ins Sonnenlicht heraus, blinzelte und hielt den Atem an.
Niemand schrie auf. Niemand rief ihr zu, stehen zu bleiben. Sie schloss sich dem Strom der Fußgänger an und überquerte beiläufig die breite Kreuzung. Fast da , dachte sie, noch ein paar Schritte .
Sabas trat zwischen den Schwingtüren hervor, als sie näher kam. Als er sie erblickte, weiteten sich seine Augen. Falkins Herz hämmerte; sie hatte Angst vor dem, was sein Gesichtsausdruck bedeutete. Waren Soldaten hinter ihr, bereit, sich auf sie zu stürzen? Oder noch schlimmer – waren sie ihr hier zuvorgekommen und warteten drinnen, um sie zu verhaften? Sie packte das Logbuch unter ihrem linken Arm fester.
Sabas trabte heraus, um ihr entgegenzugehen. »Was ist dir denn passiert?« Er schlang einen Arm um ihre Schultern und drückte sie sacht an sich, als versuche er, sie festzuhalten. Sie winselte, ein Aufblitzen von Schmerz durchzuckte die immer noch empfindliche Schulter. Er ließ sie los; sein Gesicht bot eine Maske der Besorgnis. »Wo sind deine Stiefel?«
»Ich bin in Schwierigkeiten«, keuchte sie. »Soldaten haben Artie festgenommen. Sie sind auch hinter mir her. Ein Danisober ist mir auf den Fersen.« Plötzlich sackte sie gegen ihn. Er bückte sich, legte einen Arm unter ihren Rücken und den anderen hinter ihre Knie.
»Nein, es geht mir gut«, protestierte sie. Er hörte jedoch nicht auf ihre Versicherung. Wortlos nahm er sie auf die Arme und trug sie in die Stille des Wirtshauses. Es war noch früh. Hier und da schlief ein Gast, den Kopf auf gekreuzte Arme gebettet, nachdem er in der vorherigen Nacht zu viel getrunken und das Bewusstsein verloren hatte. Da Camberlins Schenke nie wirklich schloss, hielt auch niemand es für sinnvoll, die armen Wichte hinauszuwerfen.
Die Dirnen saßen in Umschlagtücher gehüllt gemeinsam am großen Tisch in der Mitte des
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