Die magische Fessel
wieder verblaßte, waren Mythors regloser Körper und Gerrek verschwunden.
»Lauf zur Brücke!« befahl Mokkuf seinem Diener. »Beeile dich! Frage Caeryll, ob Oomyd erwacht ist!«
Hukender hatte nicht den Eindruck, daß dieses Wunder geschehen war, als er sich den Weg durch Kämpfende und am zuckenden Leib der Schlange vorbei bahnen mußte. Er war außer Atem, als er das Innere des Widderkopfes betrat und die Magiekundigen in ihrem Kreis sah. Nur Cryton schien noch Kraft zu haben. Alle anderen standen offenbar kurz vor dem körperlichen Zusammenbruch.
»Caeryll!« rief Hukender. »Caeryll, kannst du Oomyd jetzt spüren?«
Der Alptraumritter verneinte.
4.
Mythor erwachte in einem Zauberland. Er lag in hellen Nebeln, spürte die Frische in seine Glieder zurückkehren und etwas seinen Geist berühren – und er wußte, daß er etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte.
Er drehte den Kopf und sah Gerrek unverletzt neben sich liegen, jedoch ohne Bewegung und mit geschlossenen Augen. Eine Berührung zeigte ihm, daß Gerrek in tiefe Starre gefallen war.
Mythor richtete sich auf. Unter den Nebeln war nachgiebiger, leicht federnder Boden, wenn auch nicht sichtbar. Er schritt wie auf einer weißen, strahlenden Wolke und suchte sie.
»Shaya?«
Er hatte nichts vergessen – weder sein erstes Zusammentreffen mit der Geheimnisvollen noch die Gefahr für Carlumen und den Kampf, den sicheren Tod, hätte Shaya nicht aus ihren unbegreiflichen Gefilden heraus eingegriffen.
»Shaya?«
Sie zeigte sich nicht. Warum?
Er wanderte weiter. Die weiße Ebene schien kein Ende zu nehmen. Wohin er den Blick auch wandte, es gab nur die wie in einem magischen Wind leicht aufsteigenden Nebel.
Etwas sagte ihm, daß er gegen die Ruhe und den Frieden ankämpfen mußte, die in ihm waren – vielleicht gar gegen den tief in ihm schlummernden Wunsch, für immer in dieser Zauberwelt zu bleiben. Auf Carlumen wurde weiter gekämpft. Alles hing davon ab, daß er so schnell wie möglich in den Tempel und zu Oomyd gelangte.
Eine andere Stimme aber sagte ihm, daß in diesem Märchenreich die Zeit keine Bedeutung hatte, daß Shaya um seine Nöte wußte, daß ihr unerwartetes Eingreifen nur einen Zweck haben konnte.
Endlich sah er sie, als die weißen Schleier sich teilten und den Blick freigaben auf jenes überweltlich schöne, feengleiche Geschöpf, das doch soviel Unnahbarkeit und Kälte ausstrahlte. Es war keine Kälte der Ablehnung, im Gegenteil. Es schien der für ihn erfaßbare Ausdruck jener Barriere zu sein, die zwischen ihnen bestand – zwischen einem Sterblichen und einer Botin der Götter.
Wie Gwasamee! dachte Mythor sofort wieder, als er ihr Lächeln sah, das erhaben schöne Antlitz mit den großen, tiefschwarzen Augen und der hellen Haut, mit dem kirschroten Mund, der einem auf ihrer Seite der Grenze stehenden Helden so viele Versprechungen zu machen vermochte. Das silbrige Haar fiel weit über die Schultern auf das wallende, wie von leichten Winden zärtlich umspielte weiße Gewand.
»Ich versprach dir«, sagten die Lippen, und abermals wußte Mythor nicht zu sagen, ob die Stimme in seinem Gehör war oder durch die Kraft des Lichtes selbst tief in seinem Geist, »daß wir uns wieder begegnen werden. Und ich sagte dir, daß es vieler Schritte bedürfe, um die Antwort auf alle die Fragen zu finden, die dich heute quälen. Mit Carlumen hast du den ersten getan.«
»Dann steht der zweite bevor?«
Ihr Lächeln, die unendliche Tiefe ihres Blickes, das leise Flüstern ihres Gewandes – alles an ihr war Geheimnis. Wie beim erstenmal, schlug es Mythor auch diesmal wieder in seinen Bann. Was er fast vergessen hatte, was hinter der Abwehr der Gefahr durch Yhr und der über dem Eiland lastenden finsteren Macht zurücktreten mußte, war auf einmal wieder da. Mythor ahnte, daß Shaya ihm auch diesmal die Antworten versagen würde, doch die Fragen sprudelten nur so aus ihm hervor.
»Du nennst dich eine Suchende. Suchst du den Lichtboten? Weißt du etwas über ihn, das uns hilft, gegen die Mächte der Finsternis zu bestehen? Bist du…?«
Sie ließ ihn ausreden, wartete geduldig, bis er endlich verstummte und sie voller Hoffnung ansah. Er war ganz nahe an sie herangetreten. Sie berührte seine Hand mit der ihren – und wieder waren ihre Finger so kalt wie der Tod!
»Dein ärgster Feind ist die Ungeduld, Mythor. Lerne sie zu bezwingen, und du tust einen weiteren Schritt auf dein Ziel zu.«
»Du hilfst mir, also ist es auch dein Ziel!«
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