Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
Schlaf betäubt. Durch das Gitter sieht er auf einen leeren Platz hinunter, den weiße zweistöckige. flachgedeckte Häuser umrahmen. In der Mitte des Platzes steht ein Klumpen verstaubt aussehender niedriger Palmen. Alles ist von Bläue durchtränkt.
Er sitzt im hellen Schatten einer träg flatternden, rotgestreiften Markise. Von den frühen Strahlen wird ein leiser Asphaltdunst befreit. Dazwischen stiehlt sich ein anderes Parfüm: es kommt von den Nelken, die in großen Vasen wachsen. Eine mächtige, schillernde Fliege klettert zwischen den Nelken umher; andere Fliegen beschreiben langsame, blitzende Kreise in der Luft.
Da birst es wie ein Sturm in das Bild; alles erzittert. Der Sturm ist eigentlich ein Dröhnen von Worten; deutschen Worten, die wie aus einer Posaune dazwischenfahren: »Was siehst du?«
Sein Hirn müht sich ab. Was hieß dies doch? Er versucht zu übersetzen; es ist Qual und Angst. Ist er denn in der Stube mit dem deutschen Fräulein? Seine schwere Zunge rührt sich und er murmelt auf spanisch: »Dort unten sehe ich die Plaza.«
»Was noch?«
»Ich sehe . . .« buchstabiert er weiter . . . »die Calle dell' Estado . . .« Er kann nicht weiter; darüber ist er tief beschämt.
»Bist du zu Hause?«
Er zuckt zusammen. Immer noch unter Tränen flüstert er gehorsam: »Ja, Señor. Auf dem Balkon.«
»Blicke wieder hinab! Wen siehst du jetzt unten? Auf der Straße?«
Er schiebt sich nah an das Gitter.
»Sieh doch genau hin!« sagt die Stimme. »Ist das nicht dein Vater? «
Richtig! Da kommt sein Vater. Ganz fern an der Straßenecke taucht er plötzlich auf. Ganz klein zunächst. »Papa!« ruft der Knabe mit tonloser Stimme. Die Fliegen schwirren nicht mehr; sie hängen als goldene Punkte in der Luft. Zwischen ihnen wächst der näherkommende Mann. Er trägt einen Anzug aus makellos weißem Leinen, und die Krempe seines Panamahutes ist tief ins Gesicht gezogen.
Plötzlich entsteht ein großes Gedränge auf der Straße. Die Rottos treiben ihre Maultiere vorbei. Mädchen in seidenen Mantos promenieren kichernd um die Palmen. Sonntägliche Menge strömt, Kutschen fahren kreuz und quer. Ein Polizist vom schwarzen Gaul herab wirft sein Lasso nach einem zusammenbrechenden Karrenpferd und zerrt es mit Gewalt in die Höhe. Das Pferd tut einen schneidenden Schrei. Gleichzeitig knattert eine rotaufblitzende Flagge. Sie ist dasselbe wie der Schrei.
»Papa!« schreit der Knabe auf dem Balkon. Flugs erstarrt das Menschengewimmel. Alles dreht die Hälse nach oben.
Auch der Mann mit dem Panamahut hebt den Kopf. Es ist um ihn eine Leere entstanden im Gedränge, wie eine kleine Wüste; es ist, als schleife er das Echo eines Schluchzens nach sich. Er hebt seine großen grünen Augen und sieht hinauf. Er macht eine fremde Grimasse, als ob er etwas vertuschen wolle. Etwas Unausdenkbares, das ihn am Sprechen hindere. Und so geht er weiter; er kommt nicht zu ihm hinauf . . . Er geht eine endlose Reihe von Rohrjalousien hinunter, die sich wechselnd regen in einem totenstillen Wind. –
Dann schwankt wieder alles. Die fremde, aufdringliche Posaunenstimme stellt immerfort Fragen. Nun fragt sie nach der Mutter. Weiß man denn nicht, daß er nicht zu ihr hineindarf? Daß er sie nicht stören darf? Alles wird so fremd. Er kann sich nicht äußern. Nur ein großes Rauschen bleibt zurück. Das Rauschen wird so überwältigend, daß sein Bewußtsein vergeblich dagegen ankämpft; von diesem Rauschen wird alles erbarmungslos verschlungen: all das Bunte, unfaßbar Sonnige. Er meint zu ersticken . . . Er ertappt sich noch bei dem Gedanken: Wenn er jetzt seinen wahren Namen gurgeln könne, den man so dringend von ihm wissen will, dann sei er gerettet . . . Er bringt ihn nicht heraus.
Nun sagt ihm die Stimme, er habe alles vergessen. Er wisse von nichts mehr. Das ist eine große Erleichterung.
Plötzlich findet er sich auf dem Stuhl mit Herrn Borinsky in dessen Stube. Soeben hat er einen Schluck Tee nehmen müssen, der ihm nicht schmeckte. Jetzt nimmt er einen zweiten . . . Merkwürdig, wie kalt dieser zweite Schluck ist! So abgestanden! Und außerdem ist es dämmrig im Zimmer, und es war doch eben noch ganz hell gewesen!
Borinsky plaudert vom Krieg, von Lebensmittelkarten, von anderen aktuellen Dingen . . . Ein achtel Pfund Butter habe er zusammengehamstert; das habe er ihm, Max, fast alles überreicht; freilich: mit Ziehlkes könne er nicht konkurrieren . . . Max empfindet Zutrauen und antwortet
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