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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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überzeugt, meine Herren, daß die große »soziale Bestie«, die von mir vergeblich ihren faulen Kompromiß verlangte, letzten Endes an dem verdammten Zufall, der »verschleppten Grippe«, schuld ist. Sie rächte sich: haßte ich doch ihren Biertischsumpf, ihre Kegelbegeisterung. ihre menschenunwürdigen politischen Debatten, ihre klebrige Stellenjagd und konventionelle Verlogenheit. Denn dies alles war ja nur Betäubung; man wollte die Wahrheit vernebeln. Seit meinem ersten großen Erlebnis, dem Tod meiner Frau, als mich der Feueratem jener letzten Endgültigkeit streifte, für die alles andere nur Maskerade ist – seit diesem Erlebnis des Eigentlichen haßte ich all den hirnlosen Herdenschmock. Es war die wüste Ehrlichkeit von Drüben, gegen die ich damals rannte, doch seitdem empfinde ich es als Gnade. Man braucht kein Pharisäer zu sein, um zu sprechen: »Ich danke dir, daß ich nicht bin wie diese.«

Der »Röntgenblick«
    Meine Frau war schon drei Wochen lang krank gewesen; Sepsis; sprunghaft steigendes Fieber; das Kind war im Nebenzimmer untergebracht. Das Mädchen war auf Besorgung ausgegangen. Ich kam heim; es war ein dunkler Novemberabend.
    Ich suchte nach Streichhölzern, um die Lampe in der Küche anzustecken und ins Krankenzimmer hinüberzutragen. Das Kind schlief; es war still im Haus; die Türen standen offen. Leise fluchend durchstöberte ich die Küche und den Rest der Wohnung nach Streichhölzern; ich fand sie nicht. Während ich nun einhielt und nachdachte, hörte ich, wie der singende Atem sich beschleunigte; er füllte die ganze Wohnung. Auf einmal traf mich wie ein Peitschenhieb der Gedanke: »Mach' Licht, sonst ist alles verloren. Mach' Licht!! . . .« Verzweifelt suchte ich weiter. Die Finsternis wuchs immer mächtiger, immer drohender. Und bevor es mir gelang, Licht zu machen, da war es, als ob eine Schattenfaust sich um ein Uhrenpendel schlösse: der singende Atem war plötzlich nicht mehr da .
    Seltsamerweise schrie das Kind im selben Moment auf, als mir die zusammenstürzende Stille zum Bewußtsein kam. Es war, als habe man den Säugling plötzlich aus dem Schlaf gerissen. Er hatte gar keinen Grund aufzuschrecken; er lag satt in purpurner Stille. Aber eine jähe Erhellung mit jähem Erlöschen muß in das knospenhafte Hirn hineingefahren sein, und solange das Blitzbild nachglomm, schrie er auf.
    – – – Nachdem man sie begraben hatte, feierte ich im Halbschlaf wahre Feste.
    Fünf-, sechsmal kam sie zu mir. Ich fühlte, ich griff sie. Sie war in Anspruch genommen von anderen Dingen. Sehr bevorzugt kam sie sich vor; außerordentlich begehrenswert; sie zeigte eine Mischung von Keuschheit und Schadenfreude . . . Ich weiß, das klingt absurd, meine Herren; aber wenn jemand sich etwas darauf zugute tat, es unvorstellbar besser zu haben als unsereiner »im Fleische«, so war sie es, und sie machte auch kein Hehl daraus. Ihr Erscheinen war ein süßes Entsetzen und eine wachsende Beklemmung, die durchs Blut pulsierte wie Rauschgift. Sie lag über mir, – und was auf mich niedertropfte wie warmer Sommerregen, was ich einsog, war eine Ewigkeit von eindringlichem Geflüster. Ich nahm sie ganz in mich auf . . . Solch hochzeitlicher Halbschlaf, der mich weitoffnen Auges zurückließ, geschah gegen vier Uhr morgens, und ich sehe noch die schweren Flechten auf und niedertauchen vor dem Bleigrau der Frühe in den Fenstern. Es war ein körperlicher Schatten, denn er schluckte das Licht, wo er sich regte . . . Ich sah – verstehen Sie – gleichzeitig mit dem inneren und äußeren Blick, und das ist eine grundvertrackte, kaum definierbare Angelegenheit.
    Kennen Sie diesen »Röntgenblick«? – Alles wird gläsern, und die vertrautesten Möbel stehen auf einmal da wie unzureichende Kulissen vor verfemter Versenkung. Aus solcher letzten, gefährlichsten Wollust rang ich mich widerwillig hindurch an die Oberfläche der Dinge, ins normale Sein. Nur dieser Übergang war's, den ich so scheußlich empfand; ich wurde wach mit einem tauben Gefühl in den Gliedern, gehetztem Puls, schweißbedeckt und hastig atmend. Als die Besuche sich aber mehrten, gewann ich das Vermögen, meine große Unlust zu überlisten. Ich bat sie, sich ganz allmählich zu lösen, bevor sie scheide, und den Einbruch in meiner Seele gewissermaßen auszupolstern. So lullte mich fortan der Summton unserer Unterhaltung, plätschernder Akkord der Tiefe, in traumlosen Schlaf. Morgens erwachte ich dann – mit seltsamen

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