Die Magistra
Dunkelheit begab sie sich auf Schleichwegen ins Pulverturmviertel, versorgte Bernardi mit frischen Verbänden, Kleidern und Lebensmitteln. Cranachs übelriechende Salbe schien allmählich Wirkung zu zeigen, denn die Wunde an der Schulter begann zu heilen.
Einen Gutshof zu verwalten, auf dem an manchen Tagen zwischen dreißig und fünfzig Personen verköstigt werden mußten, bereitete Philippa zunächst großes Kopfzerbrechen. Lustlos hockte sie anfangs in ihrer Kammer und blätterte in den Schadenslisten, den Rechnungs- und Auftragsbüchern. Doch je länger sie sich mit den Zahlen beschäftigte, desto mehr begann die Bewirtschaftung ihr Interesse zu wecken. Mit wachsender Begeisterung studierte sie die Inventarlisten des Brauhauses und stellte fest, daß Katharina pro Jahr nicht weniger als 4.500 Liter Dünnbier braute. Die mit gepökeltem Fleisch von Schweinen und Ochsen, Gänsen und Enten, Weizen, Nüssen und Wein gefüllten Speicher und Keller der Luthers zeugten davon, wie umsichtig Katharina hauszuhalten verstand. Ihrer Küche fehlte es wahrhaftig an nichts. Die ordentliche Niederschrift des Inventars gab Aufschluß über die Menge an Salz, die jährlich im Hause ihren Absatz fand, außerdem über den Einkauf von Getreide und Mehl, Erbsen und Graupen, Safran, Kümmel, Kraut, Kohl, Möhren und Zwiebeln. Ganz zuunterst waren die Kräuter und Samen aufgeführt, die Katharina in Rauhfeld gekauft hatte.
Lediglich die Renovierung des Hauses und der Bau zusätzlicher Gewölbe hatten ein empfindliches Loch in ihre Kasse geschlagen. Die Hausrechnung wies keinen geringeren Betrag als 1.500 Gulden an. Auch mit dem Badehaus und der Anschaffung von neuen Wannen und Wasserfässern aus Kupfer hatte sich Katharina ein wenig übernommen. Darüber hinaus gab sie hohe Summen für Pferde und deren Geschirr, für feines Leintuch und Flachs sowie für den Erwerb diverser Obstgärten und Hufen samt Scheunen, Ställen, Brunnen und Zäunen aus, von denen Philippa nicht einmal wußte, wo sie sich befanden. Dem Inventar folgte eine Auflistung der Handwerker, Bader und Barbiere, Sauschneider, Glaser, Sattler, Drucker, Tuchscherer, Tischler, Schreiber, Ärzte und Apotheker, die alle auf die eine oder andere Weise mit dem Schwarzen Kloster verbunden waren und für dessen Bewohner ihre Dienste verrichteten.
Während Philippa die Rechnungen zuerst sortierte und danach in feiner Kanzleischrift in das große Wirtschaftsbuch übertrug, mußte sie an ihr eigenes Elternhaus denken. In Lippendorf war die Bewirtschaftung des Rittersitzes Sache ihres Vaters und dessen Verwalter, also der Männer gewesen. Ihre Mutter hätte es niemals gewagt, sich in deren Angelegenheiten einzumischen. Hier im Schwarzen Kloster schien die Lutherin die Verantwortung für den gesamten Besitz auf ihren Schultern zu tragen. Gewiß besprach sie den Ankauf eines Gutes sowie Ausgaben, die sich auf handwerkliche Arbeiten bezogen, mit ihrem Ehemann. Auch die Kasse ließ sie offiziell von ihm verwalten, da Doktor Luther als Hausherr das Anwesen nach außen hin vertrat. Doch dies alles mochte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Philippas Onkel die Verwaltung der alltäglichen Dinge nur zu gerne den Händen seiner Ehefrau überließ, um den Kopf für seine theologischen Studien freizuhaben.
Eine Stunde später klappte Philippa das dicke Buch zu und löschte die Kerze. Ihre Tante hatte ihren Platz im Leben gefunden. Sie war glücklich, wenn sie Knechte und Mägde befehligen und über die Äcker ihrer eigenen Höfe laufen konnte. In ihr lebte der frische Geist der Lippendorfer und deren Liebe zum flachen sächsischen Land weiter. Doch wie stand es um sie selber? In welche Bahnen lenkte sie ihr eigenes Leben? Die Träume von Lippendorf wurden von Tag zu Tag blasser und verschwommener. Und sosehr Philippa in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft im Schwarzen Kloster auch bemüht gewesen war, sich jede Einzelheit am Haus ihrer Eltern einzuprägen, sie mußte zugeben, daß ihr an Sebastian von Boras Gut nicht mehr lag als an dem ihrer Tante oder irgendeines fremden Menschen. Doch wenn es nicht die Liebe zum Ackerboden ihrer Vorfahren war, die sie umtrieb, warum dann dieser Wunsch nach Vergeltung? Warum konnte sie die Dinge nicht auf sich beruhen lassen und fühlte nach wie vor den Drang in sich, Sebastian und Abekke ihr Erbteil zu entreißen? War es wirklich der höchst unfromme Wunsch nach Rache, nach Begleichung einer offenen Rechnung, oder ging es um Gerechtigkeit? Wie wichtig
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