Die Magistra
Nun gut, Ihr sollt es erfahren. Als Bucer und seine Mitstreiter damals die Lehren Luthers in Straßburg durchzusetzen suchten, gab es im Rat und unter den Gilden viele, denen die Reformen nicht weit genug gingen. Sie sehnten sich danach, zu den Lehren der Urkirche zurückzukehren, in welcher Apostel und Propheten das Wort verbreiteten und nicht Pfaffen und Reichsfürsten. Damals erfuhren wir von heiligen Männern, die in den Niederlanden aufgetaucht waren und lehrten, man müsse den Messen, Metten, Vespern und Vigilien abschwören, weil diese Dinge vom Antichrist stammten. Alles Tun der Priester sei vergeblich, weil sie Reichtümer anhäuften und die Armen vergaßen. Meine Frau und ich begannen bald daran zu zweifeln, daß die Reformatoren wirklich die rechten Männer seien, die Kirche zu reinigen. Wir sehnten uns nach einer höheren Ordnung, nach himmlischer Erleuchtung!«
»Aber was hat dies mit den Leppers zu tun?« Philippa rückte ihren Stuhl näher zum Erker. Bernardi lehnte die Flügel des Fensters an. Er war sich nicht sicher, ob die brüchige Stimme des Alten bis hinunter auf den Markt reichte, doch man konnte nie wissen.
»Öffnet meine Truhe«, bat Hausbart leise, »und bringt mir ihren Inhalt. Dann werdet Ihr verstehen, wovon ich rede!«
Die Truhe klemmte ein wenig. Offensichtlich war sie seit langer Zeit nicht mehr in Gebrauch. Als Philippa mit Gewalt den Deckel in die Höhe stemmte, fand sie einige Kleidungsstücke, Prägestempel und zusammengerollte Bibelseiten. Die Kleider waren aus billiger blaugrauer Wolle und rochen vermodert. Die meisten trugen Brand- und Blutspuren. Als Philippa dem alten Mann eines der Kleidungsstücke, einen bodenlangen Überwurf, in die Arme legte, füllten sich dessen erloschene Augen mit Tränen. Behutsam berührte er den Stoff mit seiner hohen Stirn, als wollte er ihn liebkosen.
»Gewänder dieser Art«, sagte er mit erstickter Stimme, »trugen wir, nachdem wir Straßburg verlassen hatten und in Münster Zuflucht suchten. Anfangs legten wir sie nur an, wenn der Prophet Jan Matthys auf dem Prinzipalmarkt zu uns sprach, später mochten wir nichts anderes mehr in unseren Kleiderkammern dulden.«
»Heißt das, Ihr und die Leppers wart in Münster, während die Wiedertäufer die Stadt regierten?« unterbrach ihn Bernardi. »Ihr habt das Massaker der bischöflichen Truppen überlebt?«
»Die Leppers verließen die Stadt noch vor der Belagerung. Wie meine Frau und ich lehnten auch sie Eid und Kindertaufe ab, doch sie erkannten früher als wir, daß die Herrschaft der angeblichen Propheten auf eine Katastrophe zusteuerte. Die Wiedertäufer, müßt Ihr wissen, sind im Grunde ihres Wesens einfache, stille Menschen, die den verlorenen Weg zum Ursprung der Christenheit suchen. Haben sie die Verfolgung der Katholiken und Lutheraner verdient, die seit einiger Zeit wieder im Reich aufflammt, nur weil sie dort fortfuhren, wo Luther und Calvin nicht weiterwußten? Gewiß nicht! Es war der Teufel, der unseren Führern in Münster eingab, das Schwert zu ergreifen und mit Gewalt nach dem Tausendjährigen Reich zu trachten, und es war der Teufel, der ihre Feinde aufstachelte, die Perle Westfalens dem Untergang zu weihen. Die Leppers waren schlauer als die meisten unserer Brüder. Eines Nachts, als der Alte zum Wachtdienst eingeteilt war, flohen sie über die Mauer auf das flache Land. Nur Maria weigerte sich, ihnen zu folgen, da sie ein Kind erwartete.«
»Sie war verheiratet, nicht wahr?« fragte Philippa mit tonloser Stimme.
»Was sollte sie tun? Nach dem Tod des Propheten Matthys ließ sein Nachfolger Bockelson sich vor dem Rathaus zu Münster zum König der Wiedertäufer krönen. Er prophezeite, der Herr würde Scharen vom Himmel senden, um die Belagerung seiner Stadt aufzuheben. Vorausgesetzt, man folgte seinen Worten. Tag und Nacht streiften Prediger, sogenannte Worthalter, durch die Stadt, um ihre Bewohner zu Umkehr und Ablieferung ihrer weltlichen Besitztümer aufzurufen. Einer der eifrigsten Worthalter Münsters war ein gewisser Rottmann, ehemals Kaplan an der Kirche von St. Mauritius. Mit ihm schloß die junge Lepperin den Bund der Ehe!« Voller Abscheu hatte er seine letzten Worte ausgesprochen und beugte sich nun über die Stuhllehne, um nach dem Wasserkrug zu tasten.
»Ganz so freiwillig ging die Sache wohl nicht vonstatten?« Bernardi ging zu dem Bücherstapel hinüber, nahm das oberste Buch auf und blies vorsichtig die Staubflocken von dessen Deckel. Ungläubig überflog
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