Die Magistra
Blinden den letzten Schemel unterm Hintern wegklauen, wenn ich kein Auge auf ihn hätte.«
Philippa sah zu Bernardi hinüber, der reglos vor der schweren Eichentür verharrte. Ihn zumindest schien die Fremde nicht mit dem Diebsgesindel gemeint zu haben, denn ihre Blicke maßen ihn in schamloser Weise von Kopf bis Fuß. Philippas Anwesenheit störte sie dabei nicht im geringsten.
»Dann sorgt Ihr wohl für den alten Mann?« Philippa schob sich zwischen das aufdringliche Weib und den Magister.
»Wie? Ja, ich gehe für ihn zum Markt und … ich wohne gleich dort drüben, auf der anderen Seite des Platzes«, ergänzte sie an Bernardi gewandt und lächelte.
»Gut zu wissen, und nun führt uns zu Meister Ulrich. Wir haben nicht vor, ihn zu bestehlen, sondern brauchen lediglich eine Auskunft.«
Philippa hatte ihre Worte kaum ausgesprochen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und die hagere Gestalt des Blinden im Türrahmen erschien. Einen Herzschlag lang fixierten seine leeren Augen Philippa, als versuchten sie, die schwarzen Schleier zu durchdringen und ein Bild zu formen. Dann sagte der Mann: »Kommt herein, ehe die ganze Stadt auf Euch und mein Haus aufmerksam wird!«
Ulrich Hausbart führte Philippa und Bernardi über eine ausgetretene Stiege in eine spärlich möblierte Kammer mit einem gewaltigen Bleiglasfenster, dessen beide Flügel weit geöffnet waren. In dem Erker, der auf den Platz hinausragte, stand ein reich verzierter Stuhl mit Armlehnen, dessen verwaschenes Leinenmuster einmal bunt bedruckt gewesen sein mußte. Nun waren keine Farben mehr zu erkennen. In seinen eigenen vier Wänden bewegte sich der Blinde sicher und erhaben. Geschickt wich er einem hohen Stapel verstaubter Bücher aus, der mitten im Raum auf dem Boden lag, rückte zwei weitere Stühle hinter einer Truhe hervor und bat seine Besucher, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich mit dem Rücken zum Fenster.
»Ihr müßt die gute Sybille entschuldigen«, erklärte der alte Mann nachsichtig. »Sie ist eine Nachbarin und für gewöhnlich sehr zuverlässig. Sobald jedoch ein gutaussehender, junger Mann die Gasse betritt, ist es um sie geschehen!«
»Woher wollt Ihr wissen, ob mein Begleiter Eurer Beschreibung entspricht?« wunderte sich Philippa.
Der Alte stieß ein meckerndes Gelächter aus und strich sich über das dünne, weiße Haar. »Er redet nicht viel, Jungfer! Die Häßlichen schnattern wie die Gänse, um auf sich aufmerksam zu machen oder durch eine spitze Zunge ihr geschundenes Selbstwertgefühl zu heben. Dies gilt im übrigen auch für das Weibervolk!«
Philippa errötete. Während sie den Blinden über den Grund ihres Besuchs in Kenntnis setzte, vermied sie es geflissentlich, Bernardi oder Meister Ulrich anzusehen. So bemerkte sie zunächst gar nicht, wie das Blut langsam aus dem Gesicht des Alten wich, wie seine faltigen Hände sich zitternd um die Lehne seines Stuhles legten, ehe er sich plötzlich erhob und seinen hageren Körper nach Atem ringend über die Brüstung des Erkers beugte. Es sah aus, als würde der Greis jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren und auf das Pflaster hinunterstürzen. Bernardi mußte Philippas Ahnung teilen, denn er sprang dem Alten hinterher und zog ihn an seinem Rock in die Stube zurück.
»Verzeiht mir«, keuchte Hausbart, nachdem ihn Bernardi zu seinem Stuhl geführt und ihm den Kragen geöffnet hatte. »Es sind … meine Nerven! Ich hatte nicht damit gerechnet, in diesem Leben noch einmal mit diesen Dingen behelligt zu werden. Man hat mir mein Augenlicht genommen, mich gebrandmarkt und davongejagt. Doch der Rat von Straßburg hat mir verziehen und schließlich sogar gestattet, daß ich mein Vaterhaus am Barfüßerplatz zurückkaufte, um in diesen Mauern meinen Lebensabend zu verbringen! Die Leppers hatten dieses Glück nicht, aber sie haben ja auch niemals vor Gott und der Obrigkeit ihren Irrtümern abgeschworen!«
»Abgeschworen?« stieß Philippa entgeistert hervor. »Von welchen Irrtümern redet Ihr, und wo wurdet Ihr geblendet?«
Ulrich Hausbart griff sich an die Kehle und begann zu husten. Keuchend bat er dann Bernardi, ihm aus einem Krug, der gleich neben ihm auf dem Fußboden stand, seinen Becher zu füllen. Ohne Zögern kam der Magister der Bitte des alten Mannes nach und stützte ihn, während er trank. Nach einigen Zügen stöhnte Hausbart erleichtert auf und ließ das leere Gefäß in seinen Schoß rollen.
»Ihr wollt also wissen, warum ich mein Augenlicht einbüßte?
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