Die Magistra
schwach, um ihrer Herrin zur Hand zu gehen.
Der Pfarrherr saß auf einem Schemel, dem Backofen gegenüber, und genoß die Wärme, die von den heißen Ziegelsteinen ausging. Auf seinen Knien lag ein Buch, aus dem er seiner Frau mit gemessenem Tonfall Verse vortrug, während Wibrandis lächelnd zierliche Kreuze in die duftenden Laiber schnitt. Philippa verharrte einen Moment lang unter dem Torbogen, um die harmonische Atmosphäre nicht durch ihr Erscheinen zu stören. Im nächsten Augenblick trat jedoch Bernardi aus der Tür, die zu den Stallungen führte. In seiner Hand klapperte ein hölzerner Eimer.
»Warum habt Ihr mir nicht Euer Pferd überlassen?« rief Wibrandis dem Magister vorwurfsvoll zu. »Ihr seid doch unsere Gäste!«
Capito erhob sich, murmelte eine Entschuldigung und schnürte hastig seinen ausladenden Kragen über dem Wams zusammen. Geistesabwesend erklärte er, noch vor dem zweiten Morgenläuten zum Ufer des Rheins hinabzusteigen, um nachzusehen, wie stark der Fluß während des Tauwetters über die Ufer getreten war. Philippa sah ihm verwundert nach. Sie wurde den Verdacht nicht los, daß der wortkarge Reformator den Gästen seiner Ehefrau aus dem Weg ging, um nicht mit ihnen über Doktor Luther und den Schmalkaldischen Bund reden zu müssen.
»Ich wußte gar nicht, daß Ihr mit Hochwasser zu kämpfen habt«, sagte Philippa, nachdem der Pfarrherr die Tür ins Schloß geworfen hatte.
»So ist es leider!« Wibrandis blickte von ihrer Arbeit auf. Im oberen Stockwerk des Hauses wurde ein Fensterladen aufgestoßen, und verschlafene Kinderaugen blickten auf sie hinab. »Sobald die Schneeschmelze einsetzt, steigt das Wasser von Breusch und Rhein. Vor einigen Jahren drang die Flut gar durch das Spitaltor und das Elisabethen-Tor ein und riß alles mit, was sich ihr in den Weg stellte. Die Kalbsgasse stand völlig unter Wasser. Über hundert Häuser stürzten ein, weil das morsche Gebälk den Wassermassen nicht länger standhielt. Der Rat der Stadt hat daraufhin eine neue Bauordnung erlassen, die zweite nach der großen Pest von 1348, doch wie soll dies den Armen in den Vierteln um den Ferkelmarkt helfen? Die können sich sowieso nichts anderes als Holz- und Lehmkaten leisten.«
»Straßburg ist in dieser Beziehung beileibe kein Einzelfall, Herrin«, warf Bernardi ein. »Ich habe ähnliche Nöte in Köln, Mainz und in der Moselgegend gesehen.«
»Wenn es nur bei den zerstörten Häusern bliebe, ließe es sich womöglich verschmerzen. Doch die Flut verwüstet zudem die Felder vor den Toren der Stadt. Übrig bleiben Kadaver, Stechfliegen, Sand und Dreck. Ein rechter Nährboden für Seuchen!«
Philippa half der Pfarrersfrau, die Brote ins Haus zu tragen und trotz deren Widerspruch ein kleines Frühstück zuzubereiten. Die Capitos hatten in ihren bescheidenen Räumen nicht weniger Mäuler zu stopfen als die Lutherin im Schwarzen Kloster. Wibrandis war vor ihrer Ehe mit dem Straßburger bereits mit zwei Gelehrten verheiratet gewesen, die beide nach wenigen gemeinsamen Jahren an verschiedenen Krankheiten gestorben waren. Vier Mädchen und einen Knaben hatte die leidgeprüfte Frau zur Welt gebracht, und sie war froh, daß Wolfgang Capito, der trotz seines oft unzugänglichen und schwermütigen Wesens ein Herz für Kinder hatte, sie ohne Vorbehalte aufzog.
Nach einem Gebet und der gemeinsamen Mahlzeit zogen sich die beiden Frauen mit dem schmutzigen Geschirr zum Spülstein in die Küche zurück. Dort nahm Philippa ihren ganzen Mut zusammen und fragte Wibrandis nach einer Familie, die den Namen Lepper trug.
Überrascht blickte Capitos Gemahlin auf. Ihre Stirn umwölkte sich, als habe Philippa sich soeben nach dem Weg zum Straßburger Hurenhaus erkundigt. Dann flüsterte sie: »Gewiß habe ich von den Straßburger Leppers gehört. Ich wundere mich nur, was die Nichte Doktor Luthers ausgerechnet mit diesen Leuten verbindet!«
»Verzeiht mir, wenn meine Frage Euch unangenehm berührt, Frau Wibrandis«, sagte Philippa und verwünschte das leichte Zittern, das sich in ihre Stimme geschlichen hatte, »eine Straßburger Lepperin war bis vor wenigen Wochen Schulgehilfin in Wittenberg. Ich dachte nur, Ihr könntet mir etwas über ihre Familie sagen!«
Wibrandis nahm ein Spültuch vom Haken neben dem Stein und begutachtete es sorgfältig, ob es noch sauber war. Ihrer Miene war anzusehen, daß Philippas Erklärung sie nicht restlos überzeugt hatte, dennoch bemerkte sie: »Die Leppers hatten früher in Straßburg als
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