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Die Magistra

Die Magistra

Titel: Die Magistra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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hinüber, durch das sich einige Männer, leise plaudernd, in das Gotteshaus schoben.
    Zu dem ersten Schrecken gesellte sich Enttäuschung. Luther hatte gehofft, wenigstens ein paar Minuten in der morgendlichen Stille verbringen zu können, ehe die anderen eintrafen, aber die Glockenschläge des nahen Uhrturms mahnten ihn, daß es Zeit war, die Gespräche zu beginnen. Hohe Herren waren meistens alles andere als geduldig. Während Luther sich mühevoll erhob, starrte die Jungfrau Maria mit steinernen Augen vom Tympanon des Portals auf ihn herab. Ihr reichhaltig verziertes Relief war eines der wenigen Kunstwerke in St. Marien, das nicht in jenem entsetzlichen Aufruhr des Jahres 1522 zerstört oder beschädigt worden war. Damals waren die Bilderstürmer auch in diese Kirche eingedrungen und hatten zerschlagen, was immer sie an die Kirche des Papstes erinnert hatte. Fanatiker, grollte Luther. Er fühlte, wie es in seinem Magen zu rumoren anfing. Unbelehrbare Schwärmer. Sie hatten seine Abwesenheit ausgenutzt, und keiner war dagewesen, um ihnen Einhalt zu gebieten. Noch einmal würde er dies nicht zulassen.
    Vorsichtig bewegte der Reformator die Zehen in seinem linken Lederstiefel. Die stechenden Schmerzen in der Seite zogen bis in die Füße hinunter und machten jede abrupte Bewegung zu einer Qual. Zitternd tasteten seine geschwollenen Finger nach der hohen, mit Schnitzkunst versehenen Lehne seines Kirchenstuhles. Er beobachtete, wie die Männer in respektvoller Entfernung stehenblieben und miteinander flüsterten.
    Vermutlich denken sie, ich sei noch ins Gebet vertieft, überlegte Luther. Der Schimmer eines Lächelns huschte über sein Gesicht. Er zog sein knielanges dunkles Gewand über dem breiten Ledergürtel gerade und fuhr sich durch das wirre Haar. Als Mönch hatte er sich niemals Sorgen um sein Aussehen machen müssen, weiß Gott, vielleicht war die grobe Kutte das einzige in seinem Leben, was er wirklich vermißte. Doch immerhin hatte der Herr ihm eine tüchtige Hausfrau an seine Seite gestellt, die ihn mit ihrer Fürsorge beinahe erdrückte. Er zuckte zusammen, als sich der Schmerz in der Leistengegend wiederum bemerkbar machte. Es war ein Fehler gewesen, Katharinas bittere Arznei zurückzuweisen. Aber nun war es zu spät, darüber zu klagen.
    Die Männer warteten darauf, daß er sich zu ihnen gesellte.
    Soeben betrat Georg Spalatin, gefolgt von zwei Dienern, das Kirchenschiff. Luther erkannte, daß er seine breite Goldkette mit Wappen über dem vornehmen Mantel trug, die ihn als Sekretär des Kurfürsten und landesherrlichen Beamten auswies. Sein Spitzbart durchstach bei jeder Kopfbewegung die kalte Luft. Gleich neben ihm raschelte sein alter Freund Philipp Melanchthon mit mehreren Papieren. Martin Luther kniff die Augen zusammen und versuchte unter den Dokumenten, die sein Mitstreiter Spalatin unter die Nase hielt, die Abschrift seiner ersten Bekenntnisformel herauszufinden. Doch dann fiel ihm ein, daß er das Schriftstück seinem Schreiber zur Korrektur übergeben hatte. Der Wittenberger Patrizier Henricus Krapp, ein wohlbeleibter Mann, der sein Doppelkinn unter einer Halskrause verbarg, nahm seinen Platz nahe der Sakristei ein. Hinter ihm balancierte ein junger Bursche in einem grasgrünen Rock mit weiten Schlitzärmeln ein Kissen, auf dem die goldenen Siegel der Stadt thronten. Der Sessel neben dem Bürgermeister war noch leer. Offensichtlich war der Abgesandte des hessischen Landgrafen noch immer nicht eingetroffen. Martin hatte seiner Frau strikte Anweisung gegeben, ihm einen Boten zu schicken, sobald sie Nachricht von der Ankunft Wolfgers von Hoechterstedt erhielt.
    Die kühlen, steinernen Augen der Gottesmutter begleiteten Luther, als er sich auf den Weg durch das hallende Kirchenschiff machte. In der Nähe des gewaltigen Taufbeckens spürte er plötzlich einen kalten Hauch, der sein Genick erstarren ließ. Ärgerlich wandte er sich zu den vier Wappenlöwen um, die unterhalb des Beckens kauerten. Ihre toten Augen starrten ihn an. Gierig und voller Mordlust.
    » Vade retro , Satanas«, murmelte Luther hastig. Die Welt versank in eitlem Aberglauben, der nur darauf abzielte, den Gläubigen auf seinem Weg durchs Erdenleben zu verwirren und ihn in die Netze des Widersachers zu treiben. Wer die Schrift las und sich der Gnade des Erlösers anvertraute, konnte in der Gottesmutter nichts anderes erkennen als eine demütige und gehorsame Magd des Herrn, die ihre Dienste verrichtet hatte, so wie er die seinen

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