Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)
gehen.«
Von diesem Treffen kehrten wir gemeinsam zurück.
XIII. Den ganzen Abend lang sah ich Vera nicht – sie hatte sich unter die Pritsche zurückgezogen und zeigte sich nicht. Im Waggon sprach man schon nicht mehr von ihr. Dort hatte sich etwas Neues ereignet: Galopowa hatte die Abwesenheit der Hauptmännin ausgenutzt und der kleinen Lariska, die ihr von oben in die Suppe gespuckt hatte, den Hintern versohlt. Alle diskutierten leidenschaftlich, ob sie das hatte tun müssen oder überhaupt kein Recht dazu gehabt hatte.
Levit brüllte und spuckte selbst zu diesem Anlaß, befürwortete Prügel aber insgesamt und wollte sie sehr gerne ausweiten, auf Galopowa selbst und einige andere. Die Hauptmännin weinte so unnatürlich lange auf ihrer Pritsche, daß sogar die verprügelte Lariska sie fragte: »Was heulst du, du Heulsuse?« – und dafür ein zweites Mal bestraft wurde. Galopowa selbst hörte sich, in ein großes Tuch gehüllt, alle Ansichten zu dieser Sache mit gleichmäßiger Verachtung an, auch die, die tendenziell auf ihrer Seite waren. Man sah, sie hatte endlich ihren Lieblingsgedanken in die Tat umgesetzt und bewiesen, daß sie nicht schlechter als die anderen war.
Später fingen die Lieder an, obwohl die Hauptmännin weiterhin leidensschwer stöhnte, von Zeit zu Zeit den Kopf von ihrer Pritsche hervorstreckte und drohte, Galopowa zu töten. Der Waggon zitterte. Es muß spät gewesen sein, als alle endlich Ruhe gaben und nach der durchlebten Aufregung tief und fest einschliefen.
Ich setzte mich ans Feuer und saß dort die ganze Nacht allein. Ich war traurig, daß ich in ein leeres, grenzenlos leeres Leben zurückkehrte. Ich wollte an anderes denken und erinnerte mich an meine früheren Gedanken, die mir teuer waren – daran, daß ich irgendwann aus dem Krieg zurückkehren und ein besonderes Leben führen würde, ein gleichmäßiges, verschlossenes und zurückhaltendes, in dem nichts sein würde außer Gedanken. Ich stellte mir Bücher vor, Bildhauerei, musikalische Studien. Doch das alles hatte überhaupt keinen Wert mehr für mich, weil es von Vera wegführte. Ich dachte, daß Vera mir gegenüber hochnäsig sei und als Siegerin aus unseren Gesprächen hervorgehe. Mir erschien, daß ihr Brief von oben herab geschrieben sei. Ich zog den Brief heraus und las ihn erneut durch und sah, daß dort das für mich einzig Nötige fehlte: Dort stand nicht, daß Vera mich liebte. Wir waren einander völlig fremd. Wir stimmten in nichts überein. Sie war in mir wie die Kugel in einer Wunde. Ich konnte nicht aufhören, sie zu fühlen. Ich war bei ihr irgendwie anders eifersüchtig, als ich es bei einer anderen gewesen wäre. Egal was sie tat, alles an ihr schien mir hinreißend. Ich erinnerte mich, wie neulich alle wütend auf Vera gewesen waren wegen einer unflätigen Aktion gegenüber einer Freundin und wie ich mit absoluter Aufrichtigkeit sagte: »Aber das ist doch nett.« In ihrer Rücksichtslosigkeit selbst sah ich nichts als mädchenhaften Zauber und in den Fehltritten die Fragilität, an die ich gedacht hatte, als ich Vera mit einer Kerzenflamme verglich.
Ich kann sie trotz allem nicht nicht lieben,
dachte ich,
nur wird das niemanden mehr etwas angehen, nicht einmal
Vera selbst; das wird meine Angelegenheit sein, genauso besonders wie alle meine Gedanken, die niemanden etwas angehen.
Ich machte die Laterne aus, ging mit einer Papirossa ein wenig im Waggon auf und ab und sprang danach auf meine Pritsche. Ich konnte nicht anders entscheiden, und im Grunde war das keine Entscheidung – das war unabwendbares Schicksal. Ich spürte immer noch Schwermut und sogar Angst, aber in dieser Schwermut und in der Angst lebte schon das Gefühl grenzenlosen Glücks.
XIV. Ich weiß nicht, auf welche Weise es geschah, aber morgens, als ich aufwachte, waren weder Schwermut noch Unruhe in mir zurückgeblieben. Da war nur Glück, die heitere Zuversicht, daß alles genau so kommen wird, wie es kommen soll. Am selben Morgen brachen wir endlich auf aus L***, wo es mir so schlecht ging. Unmittelbar vor der Abfahrt steckte mir Vera mit verlegenem Gesichtsausdruck einen Zettel zu:
»Mein Gott! Was soll ich tun? Heute morgen, als Sie hinausgegangen waren, geschah etwas, was ich überhaupt nicht erwartet hatte. Ich bin sehr unglücklich: Alles, was ich, wie ich glaube, eigentlich gut mache, geht zwangsläufig schief. Die kleine Lariska hat das Foto gesehen, das Sie mir gegeben haben, und natürlich so losgeschrien, daß der
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